die wahrheit: Raum für Notizen
10 Uhr. Noch vier Stunden bis zum Redaktionsschluss der Seite. Es ist einer dieser Tage. Es wird die Hölle. Heute ist es zum allerersten Mal so weit...
10 Uhr. Noch vier Stunden bis zum Redaktionsschluss der Seite. Es ist einer dieser Tage. Es wird die Hölle. Heute ist es zum allerersten Mal so weit: Der berüchtigte "Raum für Notizen" wird auf der Seite erscheinen. Denn es gibt keine Kolumne. Wenn man die eingespeicherte Telefonnummer des Kolumnisten wählt, kommt nur ein Besetztzeichen. Ein schlechtes Zeichen: Der Kolumnist hat den Hörer danebengelegt oder das Telefon ausgeschaltet oder den Apparat gleich ganz abgemeldet. Er wird heute ganz sicher keine Kolumne liefern. Das ist schon jetzt klar. Dann gibt es eben "Raum für Notizen", dieses totenleere, weiße Feld mit dem höhnischen Schriftzug darüber: "Raum für Notizen". Als ob der Leser sich Notizen machen würde. Paah …
11 Uhr. Noch drei Stunden bis zum Redaktionsschluss der Seite. Immer noch dauerbesetzt. "Raum für Notizen" ist die härteste Niederlage für jeden Redakteur. Wenn es ihm nicht gelingt, die Seite wie geplant zu füllen. Meist hat ein freier Autor den Termin verbaselt oder das Thema nicht in den Griff bekommen. Man kann einen Textausfall auch durch eine Eigenanzeige kaschieren. Dann wird irgendein belangloser, hausinterner Kram beworben, um den Platz zu füllen. Aber das ist Selbstbetrug. Redlich wäre es, das Versagen zuzugeben. Öffentlich mit dem "Raum für Notizen" zu signalisieren, es ist etwas schiefgelaufen - wie vor Jahren einmal in der FAZ: eine Viertelseite. Eines der wenigen Male, dass man beim Lesen der Frankfurter Allgemeinen dachte: Alle Achtung!
12 Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Redaktionsschluss der Seite. Dieser verdammte Kolumnist. Ja, Kolumnisten dürfen alles. Na gut, fast alles. Hauptsache, sie füllen den Kolumnenplatz mit ihren ureigenen Geschichten. Dann können sie sehr viel weiter gehen als gewöhnliche Journalisten. Nur eins dürfen sie nicht: den Redakteur versetzen.
13 Uhr. Noch eine Stunde bis zum Redaktionsschluss der Seite. Man sollte ihn vierteilen! Er meldet sich immer noch nicht am Telefon. Oder ist die Telekom wieder schuld? Gleich mal nachfragen wegen technischer Störungen … Wie erwartet: nichts. Der verfluchte Kolumnist ist stillschweigend abgetaucht. Wahrscheinlich ist ihm wieder nichts eingefallen. "Ich finde kein Thema. Gibt es nicht irgendeine Idee?", jammert er immer schon zwei Tage vor Abgabe herum und ödet alle in seiner Umgebung an, besonders die Redakteure, denen allerdings zugegebenermaßen auch nicht immer etwas einfällt.
13.50 Uhr. Noch zehn Minuten bis zum Redaktionsschluss der Seite. Ein letzter Versuch. Nein! Nein! Nein! Er geht nicht dran. Mist! Mist! Mist! Gleich bleibt tatsächlich nur "Raum für Notizen". Aber wer ist eigentlich heute dran mit der Kolumne? Moment mal?! Das bin ja ich. Ich …?!
14 Uhr. Redaktionsschluss der Seite. Schnell den letzten Satz geschrieben - und ab damit in die Korrektur und ins Layout. Puuh, doch wieder geschafft …
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