Ambulanzen für Computerspielsüchtige: Wenn das Ich ein Spiel ist

Computerspielsucht wird endlich als Krankheit anerkannt. Zwei neue Spezialambulanzen behandeln Betroffene.

Hat er n Schuss? Ballerspielfan in Aktion Bild: ap

Mirko S. will gewinnen. Unbedingt. "Das Ziel ist immer, seinen Gegner zu besiegen", erzählt er. Dabei sei es ganz egal, ob man ihn im Kampf Mann gegen Mann erschieße oder eine Armee aufstelle, um sein Land zu erobern. "Die Glücksgefühle sind die gleichen, wenn man gewinnt." S. ist 21 und computersüchtig. Oft sitzt er tagelang vor dem Rechner und spielt "Ego-Shooter-Spiele". Dabei kämpft man mit Schusswaffen gegen andere Spieler oder computergesteuerte Gegner.

Anfangs war für Mirko S. das Ballern am Computer eine Art Sport, der einfach viel Zeit in Anspruch nahm. Doch dann lief das Studium schlechter, die Beziehung ging in die Brüche. Mirko versuchte, den Rechner auszulassen - vergeblich. "Nach mehreren Rückfällen konnte ich nicht mehr leugnen, dass ich ein Problem mit dem Computer habe, das ich alleine nicht lösen kann." Daraufhin ging er zu Lost in Space, einer Berliner Suchtberatungsstelle der Caritas, die sich speziell um Computerspiel- und Internetsüchtige und deren Angehörige kümmert.

In den hellen Altbauräumen in Kreuzberg arbeitet Sozialpädagoge Jannis Wlachojiannis. "Zu uns kommen Betroffene wie Mirko S., die sich ihrer Sucht aus eigenem Willen stellen wollen", erklärt er. Aber auch Angehörige, Eltern, die mit dem Verhalten ihrer spielsüchtigen Kinder nicht mehr klarkommen, wenden sich an ihn. Er erzählt von Einzelfällen, bei denen 72 Stunden am Stück exzessiv durchgespielt werden, und von den Betroffenen, die häufig in sozialer Isolation leben.

Die Hauptklientel bei Lost in Space ist zwischen 16 und 25 Jahren alt, 90 Prozent davon sind männlich. Obwohl Ego-Shooter-Spiele in einigen Fällen die Realität ersetzen, glaubt Wlachojiannis nicht, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen derlei Spielen und dem realen Griff zur Waffe gibt.

Dennoch ist das Gefahrenpotenzial gewaltig. "Kinder und Jugendliche sind in den letzten Jahren so massiv interaktiven elektronischen Medien ausgesetzt, dass diese bereits integraler Bestandteil ihrer Lebenskultur sind", berichtet Oliver Bilke. Bilke ist Chefarzt der Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Vivantes Klinikum Hellersdorf und dem Vivantes Humboldt-Klinikum. "Wir haben in den Jahren 2005 bis 2007 etwa zwei bis vier Patienten gehabt, deren Medienkonsum das Familienleben massiv beeinflusst hat. 2008 waren es schon mehr als 30 medienabhängige Minderjährige, die wir stationär behandelt haben", erklärt Bilke. Insgesamt geht er von mindestens 10.000 Betroffenen in Berlin aus. Für weniger schwere, doch akute Fälle wurde Anfang April die Medienambulanz eingerichtet.

Im Humboldt-Klinikum ist sie integriert in die "normalen" Klinikräume, umfasst eine Anmeldung, Behandlungszimmer und einige Beratungsräume. Im April waren knapp 50 Kinder und Jugendliche hier in Behandlung. Sven H. ist einer davon. Er ist 15 und World-of-Warcraft-Spieler, eines der erfolgreichsten Online-Rollenspiele. Nur in seiner Fantasiewelt namens "Azeroth" fühlt er sich wohl. Er hat acht verschiedene Identitäten, ist gefragt unter seinen virtuellen Spielkameraden. Doch reale Freunde ziehen sich zurück, die Schule interessiert sowieso nicht mehr. Svens Mutter machte sich Sorgen, sie drohte und schimpfte und suchte schließlich zusammen mit ihrem Sohn die neue Medienambulanz auf.

Einfache Lösungen werden dort nicht geboten. Auch Verbote bringen nichts, erklärt Chefarzt Bilke: "Ich würde den Eltern nie raten, den Stecker zu ziehen. Wichtig ist es, nach dem Kernproblem zu fragen." Wlachojiannis sieht das ähnlich: "Über Verbote setzen sich die Betroffenen sowieso hinweg. Die Eltern müssen sich mit den Ursachen auseinandersetzen."

Eine Beratung oder Therapie kann unterschiedlich aussehen. Lost in Space bietet Einzelgespräche wie offene Gruppensitzungen an. Etwa 15 Betroffene treffen sich wöchentlich, die Einzelnen sprechen der Reihe nach über ihre Probleme, danach wird in der Gruppe darüber geredet.

In der Medienambulanz stimmen Bilke und sein Team das Therapieprogramm individuell ab. Grundsätzlich umfasst es vier Phasen, der Aufwand soll so minimal wie möglich sein. Gespräche bilden die Grundlage, aber auch Leistungs- und Intelligenztests werden durchgeführt. Geht die Behandlung nach drei bis vier Monaten nicht voran, muss über eine teilstationäre Behandlung nachgedacht werden.

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