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Debatte Boykott der EuropawahlTabu Wahlverweigerung

Kommentar von Daniela Weingärtner

Ein Demokrat soll wählen gehen. Was aber tut er, wenn er mit seinem Kreuzchen Rahmenbedingungen absegnet, die undemokratisch sind?

N ur ein wählender Wähler ist ein guter Wähler - jedenfalls aus der Sicht der Politiker, die regieren wollen. Denn aus dem Wählerauftrag beziehen sie die Legitimation, Gesetze zu beschließen und damit in das Leben jedes Einzelnen einzugreifen.

Deshalb betont das Europaparlament, das gegenüber den beiden anderen EU-Institutionen an chronischem Minderwertigkeitsgefühl leidet, so gern sein "Alleinstellungsmerkmal": Es hat zwar noch immer weniger Macht als der Rat der Regierungschefs. Es darf keine Gesetze vorschlagen wie die EU-Kommission. Doch es ist die einzige demokratisch gewählte europäische Institution.

Das ist ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. Es ist aber auch ein Vorschusskredit, der eingelöst werden muss. 375 Millionen Wahlberechtigte können per Briefwahl oder zwischen dem 4. und dem 7. Juni persönlich in der gesamten Europäischen Union ihr Kreuz machen. In Deutschland können sie zwischen 31 verschiedenen Parteien wählen, von denen fünf eine realistische Chance haben, ins neue EU-Parlament einzuziehen. Doch ganz egal, ob eine Mehrheit den Rechten, den Sozen, den Linken, den Grünen oder den Liberalen ihr Vertrauen schenkt - an der fundamentalen Misere, in der sich die EU derzeit befindet, wird das nichts ändern.

Die Europäische Union krankt an zwei grundlegenden Problemen, die sie lähmen und ihre politischen Entscheidungsprozesse willkürlich und unvermittelbar machen. Das eine ist eine viel zu schnell verlaufene, weder in der alten EU noch in den Beitrittsländern verarbeitete Erweiterung. Das zweite ist ein zerstückelter, politisch zerredeter und bis heute nicht umgesetzter neuer Verfassungsvertrag. In beiden Fragen hätte das EU-Parlament in der vergangenen Legislaturperiode die Chance gehabt, die Notbremse zu ziehen und sich seiner Rolle als einzig vom Wähler legitimierte Institution würdig zu erweisen.

Eine schweigende Mehrheit im Parlament hielt weder Polen noch Tschechien für reif, der EU beizutreten. Viele warnten, man werde sich mit Zypern den schwelenden Konflikt des griechischen Landesteils mit der Türkei ins Haus holen. Gegen die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens wurden in Anhörungen und Debatten unzählige Fakten und Argumente zusammengetragen. Dennoch segnete eine Mehrheit die jüngste Erweiterungsrunde ab - auf Druck der nationalen Regierungen, aus Furcht vor einem Skandal, letztlich aus mangelndem Selbstbewusstsein und fehlender Courage.

Die Europäische Verfassung hatten Abgeordnete aller Fraktionen mit erarbeitet. Das Ergebnis wurde von einer überwältigenden Mehrheit des Hohen Hauses getragen. Dennoch gab es keinen Aufschrei, als sich die Regierungen über den Text beugten und einige Kernpassagen wieder strichen. Das Europaparlament stimmte zähneknirschend zu - wie es das schon beim ungeliebten Vertrag von Nizza getan hatte. Die Abgeordneten begründeten ihre Entscheidung damit, die Reform nicht verzögern oder gefährden zu wollen. Schließlich sollte sie vor der Erweiterung in Kraft getreten sein. Wie wir inzwischen wissen, hat das Duckmäusertum keine Früchte getragen.

Natürlich ist es polemisch, die Arbeit der 783 Abgeordneten auf diese beiden Entscheidungen zu verkürzen. Vor allem in der Umweltpolitik war die Mehrheit der Parlamentarier in den vergangenen fünf Jahren oft fortschrittlicher als der Rat der Regierungen und konnte gemeinsam mit der EU-Kommission Verbesserungen in der Gesetzgebung durchsetzen. Doch die tiefe Kluft zwischen den Bürgern und ihren europäischen Institutionen verringert sich nicht durch ein paar strengere Grenzwerte und eine bessere Kontrolle giftiger Chemikalien. In der Kernaufgabe, Strukturprobleme beim Namen zu nennen und das Demokratiedefizit zu verringern, hat das Parlament versagt.

Nicht zuletzt die 99 deutschen Abgeordneten, die größte nationale Gruppe im EP, haben dabei eine unrühmliche Rolle gespielt. Die Sozialdemokraten fühlten sich der großen Koalition in Berlin so sehr zu Loyalität verpflichtet, dass sie sich bei ihren Kernthemen wegducken mussten. Als der deutsche sozialdemokratische Arbeitsminister Olaf Scholz im Rat dagegen stimmte, dass menschenwürdige Höchstarbeitszeiten in der Union eingeführt werden, war von seinen deutschen SPD-Kollegen im EU-Parlament kein kritisches Wort darüber zu hören.

Als sich Horst Seehofer in München zu seinem neuen polternden EU-kritischen Stil entschloss, um die CSU bei der Europawahl über die Fünfprozenthürde zu heben, taten es ihm die CSU-Abgeordneten im Europaparlament eifrig nach. Und die Linke strafte ihre EU-erfahrenen Abgeordneten dafür ab, dass sie nicht in die populistische Leier vom europäischen Militärstaat einstimmen wollten und den neuen EU-Vertrag als wichtigen Fortschritt ansehen.

Man könnte nun einwenden, dass es ja noch die Liberalen, die Grünen und die CDU gibt, die sich schon deshalb treu geblieben sind, weil sie in Brüssel dasselbe Lied singen können wie in Berlin. Aber darum geht es nicht. Jeder Wähler, der Anfang Juni brav ins Wahllokal geht und sein Kreuzchen macht, signalisiert damit stillschweigend sein Einverständnis mit Zuständen, die jeder Demokrat als unhaltbar betrachten muss. Gewählt wird nach den Regeln des Vertrags von Nizza. Sollte sich irgendwann danach der Lissabon-Vertrag mit ein paar weiteren Zusatzprotokollen doch noch hinmauscheln lassen, müsste nachträglich die Zusammensetzung des Parlaments und der EU-Kommission geändert werden. Die Europäer aber würden dazu kein zweites Mal gefragt.

Das ist keine juristische Formalie. Die Wähler werden als demokratisches Feigenblatt missbraucht. Als sie diese Rolle bei der Wahl 1999 zum ersten Mal verweigerten und die Wahlbeteiligung von 60 auf 45,2 Prozent sank, beriefen die Regierungen einen Verfassungskonvent. Dessen Ergebnisse haben sie inzwischen demontiert. Der einzig wirkungsvolle Protest gegen die weiterhin uneingelösten Versprechen von Demokratisierung besteht infolgedessen darin, diese Wahl ganz bewusst zu boykottieren.

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19 Kommentare

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  • G
    Georg

    Ich habe soeben trotzdem gewählt.

    Das Signal wäre sonst einfach zu uneindeutig …

     

    Aber eigentlich sollten wir, die Bevölkerung Europas, über unsere Verfassung mit abstimmen dürfen. Dann wäre die vermutlich gleich etwas demokratischer (und sozialer) geraten.

     

    Schluß mit der Diktatur der Kommission!

  • RL
    Rolf Lange

    Was wäre denn erreicht, wenn diejenigen, die eine demokratischere EU wollen, sich bei der Wahl enthalten? Gestärkt würden dann die, denen die Demokratisierung egal ist oder die die Europäische Einigung ablehnen. Es gibt doch Parteien, die sinnvolle demokratische Reformvorschläge gemacht haben. Und wenn dieses Ziel von nationalen Regierungen oder Egoismen blockiert wird, muss man eben auch dort aktiv werden.

  • V
    vic

    Nein, mittels ungültiger Stimme der Wahl enthalten, halte ich ich für keine gute Lösung.

    Das ist wie bei Meinungs-Umfragen die Wahl zwischen

    "Ja; Nein; Weiß nicht".

    Man sollte es halten es wie der FC Bayern München:

    Wer bei mir auf der Bank sitzt, der schießt wenigstens anderswo keine Tore.

    Nur, das Risiko ist mir zu groß.

    Meine Stimme bekommen Außenseiter weit jenseits links der drangvollen Mitte.

  • A
    Alex

    Eine Option "Gegen Alle" faende ich wunderbar, denn damit kann man auch schoen ausdruecken, wieweit dieses Parlament demokratisch legitimiert ist, leider gibt es keine Pflicht zur Aufloesung oder Neuwahl bei weniger als 50% gueltiger, parteienbezogener Stimmen.

  • RG
    Ronald Grünebaum

    Typisch deutsche Fundamentaldebatte: Immer gleich das Kind mit dem Bade ausschütten. Die EU ist kein Nationalstaat und wird es nie werden. Deshalb sind die Ideen einer direkten Demokratie oder gar einer europäischen Einheitssprache dummes Zeug. Es steht den Deutschen mit 82 Mio. Menschen im übrigen auch nicht an, eine Dominanz in Europa durch die Hintertür anzustreben. Respekt für die kleinen Länder muss schon sein.

     

    Der Kommentar liegt richtig beim Problem der zu schnellen Osterweiterung. Aber gab es denn eine Alternative? In dieser Logik hätten die ostdeutschen Länder auch draussen bleiben müssen.

     

    Und dass man hier einmal mehr den Wunsch nach einer Abstimmung über den Euro liest, ist ja wirklich nur noch peinlich. Wo ist denn jemals über die Landeswährung abgestimmt worden? Der breiten Masse fehlt einfach die Sachkompetenz in solchen Fragen. Abstimmungen spülen nur den geistigen Müll nach oben und schaden so letztendlich der Demokratie. Nicht jeder muss zu allem seinen Senf dazu geben.

  • H
    hto

    Von Maik: "Ich werde es genauso machen wie Marcus und mich mittels einer ungültigen Stimme enthalten."

     

    Auch eine "ungültige Stimme" zählt zur über alles geliebten Statistik der Wahlbeteiligung, eines "demokratischen" Systems der leichtfertigen Übertragung von Verantwortung und ... durch Kreuzchen auf dem Blankoscheck.

     

    Und wenn man UN-sinn der EU betrachtet - milliardenschwere Mitgliedsbeträge die für schwachsinnige EU-Projekte zurück "investiziert" werden -, dann ist das mehr als nur zweifelhaft (Geldwäsche)!?

  • M
    Maik

    Ich werde es genauso machen wie Marcus und mich mittels einer ungültigen Stimme enthalten. Ich habe zwar das Vertrauen in die Parteien verloren, empfinde das Wahlrecht aber immer noch als Privileg, dass ich nicht weggeben möchte.

     

    Boykott kann außerdem alles heißen zwischen Protest und Desinteresse. Eine Enthaltung ist dagegen immer wohlüberlegt und ein deutliches Signal der Ablehnung gegenüber den zur Wahl stehenden Alternativen und dem momentanen politischen System.

     

    Eines der größten Defizite dieses Systems ist aus meiner Sicht, dass das EU-Parlament zwar als demokratisch gewählt bezeichnet wird, die Mehrheit der Parlamentarier aber im Vorfeld aufgrund ihrer Listenposition bereits feststehen. Wem diese sich dann verpflichtet fühlen ist wohl klar und dürfte so manches im Kommentar angesprochene Abnicken erklären.

  • MU
    Martin Unfried

    Die Richtlinien, mit denen ich es beruflich zu tun habe, kamen meines Wissens nicht undemokratisch, sondern mit einem grossen Einfluss des Parlaments zustande. Dieser Einfluss wird sogar grösser mit dem neuen Vertrag (z.B in der Landwirtschaft). Warum sollte man also nicht wie bei der Bundestagswahl die Parteien stärken, die die eigenen Positionen - z.B. eine andere Landwirtschaftspolitik - vertreten? Ich schätze die Arbeit der Europaabgeordneten. Warum soll ich sie boykottieren? Und wem nützt das?

    Martin Unfried, Maastricht

  • F
    FREDERICO

    Ich persönlich bin und war schon immer für ein geintes EUROPA, allein schon als Gegengewicht zu Russland, China, und nicht zuletzt den USA. Das geht mir allerdings alles viel zu langsam, besser wäre eine europäische Republik in der die Nationalstaaten etwa den Part übernehmen, wie bei uns die Bundesländer, jedoch mit einer zentralen Schul-und Ausbildungspolitik sowie eine einheitliche Amtssprache (da hätten wir Deutschen, nebst Holland, Österreich und Belgien bei einem Volksentscheid sogar recht gute Karten!). Natürlich müsste eine verbindliche soziale Marktwirtschaft in einer gemeinsamen Verfassung festgeschrieben werden. Es bräuchte auch viel mehr Demokratie und natürlich müssten auch gesamteuropäische Volksentscheide möglich sein. Die größten Bremser sind doch die die immer noch nicht den Euro haben, weil sie nach wie vor zwar von einem vereinigten Europa träumen, jedoch insgeheim unter ihrer Führung. Die Angst vor kulturellem Identitätsverlust der Nationalstaaten ist doch völlig unbegründet. Siehe BRD, der Bayer hat nach wie vor seine Lederhose und seine Haxen, derweil der Norddeutsche weiterhin Labskaus frisst. Niemals wären 60 Jahre Frieden ohne die EG und später die EU möglich gewesen!

    Ergo wählen gehen, auch wenn das im Moment alles noch sehr unbefriedigend ist.

  • D
    denninger

    Also "vic", nicht wählen ist auch keine Lösung. Das bringt Dir erst recht nichts.

    Dass ins EU-Parlament die "B-Politiker" und die in Ungnade gefallenen abgeschoben werden ist nicht neu (Wagenknecht, Hohlmeier usw.).

  • V
    vic

    Ich werde mich an den hier gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen beteiligen.

    Nicht jedoch an der sogenannten Europawahl. Zu vieles dessen, was geplant oder derzeit noch verheimlicht wird, gefällt mir überhaupt nicht.

    Zudem ist das EU Parlament in Deutschland ein Abschiebegleis für gescheiterte B-Politprominenz.

    Entweder das, oder Parteimarionetten.

  • I
    Isabell

    Wir wurden von den Politikern nicht mal gefragt, ob wir diese EU und den Euro überhaupt haben wollten. Wer über die Köpfe des Volkes dermaßen weitreichende Entscheidungen trifft, den kann ich nicht unterstützen. Das ist für mich keine Demokratie mehr. Ich hoffe auf das Bundesverfassungsgericht.

  • H
    Holländer

    "In Deutschland können sie zwischen 31 verschiedenen Parteien wählen, von denen fünf eine realistische Chance haben, ..." Fünf? Ich komme sogar als Holländer auf sechs. Schade, dass Deutschen keinen Einbürgerungstest machen. :-)

     

    Die Macht des Parlaments sollte über eine niedrige Wahlbeteiligung reduziert werden und der Rat und Kommission gestärkt werden, damit Europa demokratischer wird?

  • ON
    Otto Normaldemokrat

    Ich denke, dass Wahlverweigerung, das Dümmste ist, was man bei dieser Europawahl machen kann. Eine Demokratie, in der nicht gewählt wird, kann nicht funktionieren. Zu argumentieren, man könne ein undemokratisches System in ein demokratisches verwandeln, indem man sein einzig richtiges Element boykottiert, widerspricht selbst und ist wahrlich nicht das Niveau, das ich von der TAZ gewohnt bin. Wir brauchen Europa, wir brauchen ein starkes Europa und kein Europa, in dem die Wähler am Wahltag zu Hause sitzen und sich über Politiker beschweren, die nicht tun, was das Volk will!

    Europäer, vereinigt euch!

  • M
    Marcus

    ich empfehle ungültig zu wählen! Dann sehen die europa abgeordneten, dass man nicht einverstanden ist mit dem jetztigen undemokratischen parlament!

     

    podcast dazu mit herrn prof schachtschneider:

     

    http://bernsteinzimmer.podspot.de/post/radio-bernstein-europa-diktatur-ohne-fuhrer/

  • SA
    Stefan aus Wuppertal

    Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.

  • F
    Frank

    Eigentlich ist es doch egal, ob man wählt. Man wird von den Volksvertretern eh verraten!

     

    Bürgerbeteiligung fängt für die Parteien am Wahltag um 08.00 Uhr an und endet am Wahlabend um 18.00 Uhr.

     

    Danach wird der Wähler wieder jeden Mist akzeptieren müssen, den die Politiker verzapfen.

  • OA
    o aus h

    Arbeitsminister OLAF Scholz!

  • A
    Achim

    Bei den russischen Präsidentenwahlen 2000 gab es die schöne Option "Gegen alle", die es einem erspart, eine ungültige Stimme abzugeben. Sie wurde aufgrund von Protesten ermöglicht, ich weis allerdings nicht, ob sie immer noch besteht.

     

    Vielleicht lässt sich da was von unseren lupenrein demokratischen Nachbarn lernen...