: Freitags im Canning, sonntags im El Beso
TANGO-BUSINESS In Buenos Aires boomt nicht nur der Tango, sondern auch das Geschäft damit. Die Dienstleistungen findiger Argentinier können sich tanzlustige Besucherinnen zunutze machen. Und sie können miterleben, wie der Tanz die wunden Seelen der Großstadt heilt
■ Veranstaltungen Tanzunterricht, Lehrer und so weiter sind im kostenlosen Magazin El Tangauta sowie der B.A. Tango zu finden, die in den Clubs ausliegen. Im Internet unter www.eltangauta.com, lamilongaargentina.com, www.puntotango.com.ar
■ Buchtipp Viele praktische Informationen zu Unterkunft, Milongas, Unterricht, Tango-Schuhgeschäften usw. enthält der Reiseführer „Tango-Tanzen in Buenos Aires“ von Maike Christen, Reise Know-How Verlag, 8,90 Euro.
■ Clubs Welche Milonga am besten gefällt, ist Geschmackssache. Beliebt sind die Milongas Parakultural im Salón Canning, El Niño Bién, El Beso, der Club Gricel, Práctica X, die Confitería Ideal, der Club Sunderland und die Open-Air-Milonga auf der Plaza Dorrego.
■ Eher unkonventionell geht es bei den Milonga LaMarshall, La Catedral, La Viruta oder im Club Independencia zu. Für Unterricht bieten sich unter anderem die Escuela Argentina de Tango, das Estudio Dinzel oder das Studio D.N.I. an.
■ Unterkunft Zum Wohnen bieten sich spezielle Tangohostels wie Boedo Bed and Breakfast (http://www.boedobednbreakfast.com.ar) oder Lina’s Tango Guesthouse (www.linatango.com) an, in denen viele Tangobegeisterte anzutreffen sind und wo Unterricht sowie einschlägige Tipps vermittelt werden.
VON ULRIKE WIEBRECHT
Jetzt zeig mir erst mal deine Schuhe“, meint Manuel, nachdem er das Auto zum Stehen gebracht hat. „Ich will die Absätze sehen.“ Unsicher ziehe ich meine Tangoschuhe aus dem Beutel. Sie sehen normal aus, keinesfalls wie die sieben Zentimeter hohen, filigranen Kunstwerke, die manche Argentinierin an den Füßen trägt. Aber mein etwas betagter Begleiter spielt den Verzweifelten: „Oh je, ich bin verloren“, ruft er theatralisch. Und er schiebt gleich noch eine Warnung hinterher: „Glaub ja nicht, dass ich Ganchos oder so einen Schnickschnack mache!“ Es ist Samstagabend. Wir sind in Boedo, einem volkstümlichen Viertel von Buenos Aires, wo sich der Club Boedo Tango befindet. Mittwochs trifft sich hier ein bunt gemischtes Völkchen mit vielen jungen Leuten. Aber am Wochenende kommen eher gesetzte Leute, vor allem Paare. Zu zweit oder in kleinen Gruppen lassen sie sich erst dicke Pizzen und Sekt bringen, erzählen munter drauf los, bis sie in Tanzlaune sind und das Parkett beschreiten.
Nicht so Manuel. „Ich will keine Pizza und keinen Alkohol. Ich will tanzen“, sagt er kategorisch, nachdem er eine Limonade und eine Coca-Cola für uns bestellt hat. Dann führt er mich zielstrebig zur Tanzfläche. Milonga wird gespielt. Schnelle Tangorhythmen, die ganz exakte Schritte und ein harmonisches Zusammenspiel des Tanzpaars erfordern. Manuel zieht mich behutsam näher an sich heran. Er macht flinke kleine Schritte, die genau zum Rhythmus passen. Ich habe keine Ahnung, welche Figuren wir tanzen. Aber ich brauche mir auch keine Gedanken darüber zu machen: Manuels Führung ist perfekt.
Eigentlich weiß ich von ihm nicht viel mehr, als dass er in der Nähe von San Telmo einen kleinen Laden betreibt und zwei sympathische Töchter hat, die ihn wegen seiner Tanzlust belächeln. Uns trennen nicht nur mehrere Lebensjahrzehnte, uns trennen Welten. Aber Musik und Bewegung schmieden uns zusammen. Für ein paar Stunden.
Natürlich kann mich Manuel nicht jeden Abend zum Tanzen begleiten. Also muss ich an den folgenden Abenden allein zurechtkommen. Und das heißt, mich dem subtilen Spiel des Aufgefordertwerdens – oder eben Nichtaufgefordertwerdens – aussetzen. Das Problem besteht darin, dass die Frauen hier brav abwarten müssen, bis er sie holt oder mit seinen Augen ein kleines Zeichen gibt. Dazu muss frau nicht nur einigermaßen günstig sitzen, um überhaupt ins Blickfeld der Tänzer zu geraten. Es heißt auch genau aufpassen, ob einem jemand zunickt.
Bei der Milonga „Porteño y Bailarín“ im Zentrum der Stadt bekomme ich einen mehr oder weniger guten Tisch zugewiesen und muss nicht allzu lange die Beobachterin spielen, bis ich aufgefordert werde. Anschließend tanze ich mehrere Stunden lang mit den unterschiedlichsten Männern. Großen und kleinen, dicken und dünnen, jungen und alten. Es bestätigt sich, was mir eine Freundin prophezeit hatte: „Wenn dich erst mal einer aufgefordert hat und die anderen sehen können, dass du einigermaßen tanzen kannst, werden sie dich auffordern.“
Aber was, wenn nur Paare da sind, die unter sich bleiben wollen? Auch das kann passieren, wenn man zum Beispiel sonnabends in den Club Sunderland im Stadtteil Villa Urquiza geht, wo in einer schnöden Basketballhalle aufgedonnerte Vorstadtschönheiten mit ausladenden Dekolletés und Blumen im Haar auf ihre Kavaliere treffen. In solchen Fällen gibt es für die partnerlosen Tänzerinnen nur eine Alternative: den Taxidancer. Er begleitet Frauen zur gewünschten Milonga, wie die Tanzveranstaltungen heißen, und tanzt mit ihnen so lange sie wollen – wenn sie ihn entsprechend vergüten. Gewiss, manche Tanguera mag damit Probleme haben, diese Art von Dienstleistung zu kaufen. Aber blutige Anfängerinnen haben ohne sie kaum eine Chance. Zum Beispiel Margit aus Worms. Ihr Tänzer ist im Pauschalarrangement, das sie im Boedo Bed and Breakfast gebucht hat, neben privatem Tangounterricht und Bewegungstraining mit inbegriffen. „Ich bin froh, dass die mir Juan Pablo besorgt haben“, freut sie sich. „Allein würde ich bei den Milongas doch nur dumm herumsitzen.“
Für manchen Porteño – wie die Bewohner von Buenos Aires genannt werden – ist das Taxidancing ein willkommener Nebenverdienst. Die Tänzer und Tänzerinnen, deren Dienste zum Beispiel auf der Internetseite www.taxidancers.com angeboten werden, haben Tarife von mindestens 12 Euro pro Stunde. Minimum sind drei Stunden, dazu kommen Eintrittsgelder, Getränke, eventuell auch das Taxi für den Rückweg. Auf diese Weise lassen sich an einem Abend leicht 50 Euro oder mehr verdienen. Was im krisengeschüttelten Argentinien, wo die Inflation das mühsam Ersparte schnell aufzehrt, eine stolze Summe ist. So ist es kein Wunder, dass manche auch nur halbwegs guten Tangueros die verzweifelte Situation zahlungskräftiger Amerikanerinnen, Japanerinnen oder Europäerinnen nutzen, die ihre im Unterricht erlernten Schritte unbedingt auf dem Parkett erproben wollen. Und überhaupt stelle ich fest: Wenn ein Wirtschaftszweig in der teilweise ziemlich heruntergekommenen Stadt mit ihren kaputten Straßen und schlecht funktionierenden Geldautomaten boomt, dann ist es das Tango-Business. Wo sich Tausende aus aller Welt tummeln, um den authentischen Milonguero-Tanzstil oder den von Pablo Inza favorisierten Tango Contemporáneo, den zeitgenössischen Fusionstil, zu erlernen, wittern viele Argentinier ein einträgliches Geschäft. Und verdingen sich beispielsweise auch als Lehrer. Ein international anerkannter Tangoprofi kassiert schon mal 90 bis 100 Dollar pro Stunde, während eine hochqualifizierte Mitarbeiterin des Goethe-Instituts mit einem Halbtagsjob einschließlich Überstunden gerade mal 400 Euro im Monat verdient. Wer einiges Renommee erworben hat, kann sich zudem Hoffnungen machen, irgendwann mal als Gastlehrer nach Moskau eingeladen zu werden, was am lukrativsten ist. „Deshalb werden die Russen hier auch überall bevorzugt behandelt“, ärgert sich Rose, eine junge Kanadierin, die in Lina’s Tango Guesthouse untergekommen ist und bereits seit vier Wochen die Szene beobachtet. „Ob sonntags im El Beso oder donnerstags im El Niño Bién – immer bekommen sie die besten Plätze und werden auch sonst umhegt. Wahrscheinlich weil sie entsprechende Trinkgelder geben.“
Angesichts des hohen Preisniveaus bin ich froh, dass sich Ramiros Honorarforderungen in Grenzen halten. Aber ich komme schließlich auch auf Empfehlung einer Freundin. Mit ihm will ich zur Practica X, die dienstags abends in der Calle Humboldt stattfindet. In dem riesigen loftartigen Raum, hatte man mich gewarnt, würde man nur schwer Tänzer finden. Außerdem wird hier ein sehr viel sportlicherer Tanzstil gepflegt wird, der gut zur zeitgenössischen Electro-Tango-Musik passt, mit dem viele aber ihre Schwierigkeiten haben. Ramiro ist mit allen Tanzstilen vertraut, weil er regelmäßig in den unterschiedlichsten Clubs verkehrt. Während wir im Bus die halbe Stadt durchqueren, um zur Práctica X zu fahren, erzählt er von „LaMarshall“, der lustigsten Schwulen-Milonga, der Kult-Milonga „La Catedral“, die in einem baufälligen Kornspeicher stattfindet, und dem alternativ angehauchten Club Independencia, in dem häufig junge Musiker für Livemusik sorgen. Er selbst fühlt sich im Salón Canning bei der Milonga „Parakultural“ am wohlsten. „Am besten ist es freitags abends“, rät er mir. „Danach geht es dann im benachbarten Club La Viruta weiter.“ Ab halb vier am Morgen ist der Eintritt frei. Ramiro erweist sich als guter Tänzer. Vielleicht vierzig Jahre jünger als Manuel, schlank, groß, die schwarzen Haare hinten zum Zopf zusammengebunden, führt er genauso perfekt wie der betagte Milonguero, hat aber ganz andere Ambitionen als dieser. Er beherrscht Volcadas und Colgadas, legt zwischendurch einen gekonnten Zapateo mit winzigen Trippelschritten hin und lässt seine Beine einen Haken nach dem anderen schlagen. So aufsehenerregend das ist – er distanziert sich ausdrücklich von den Selbstdarstellern, die seiner Meinung nach „mehr für die anderen als für ihre Partnerin tanzen“.
Lena Szankay, die Fotografin, lebt in Buenos Aires. Sie ist 1965 dort geboren. Im Jahr 1989 kam sie nach Berlin und machte eine Fotografenausbildung. Sie erhielt 2008 den franzöischen „Prix de la Photographie“. Im Juli stellt sie im Tristessse de Luxe in Berlin aus. Auch für sie sind die Sänger Carlos Gardel (links) und Roberto Goyeneche (rechts) unübertroffene Idole und sentimentale Referenz.
Tatsächlich bleiben die effektvollen akrobatischen Figuren in Buenos Aires meist den Könnern vorbehalten. Ob im hocheleganten Club Grisel oder dem kleinen, familiären „Dandi“ in San Telmo – fast immer gibt es irgendwann eine kleine Showeinlage. Die hat jedoch nichts mit den technisch perfekten, häufig gekünstelt wirkenden Darbietungen jener zu tun, die in den Touristenlokalen des Hafenviertels La Boca auftreten: Technisch perfekt, aber ohne viel Ausstrahlung.
Ganz anders ein Sonntagabend auf der Plaza Dorrego. Zwar bevölkern allerlei Schaulustige die Open-Air-Milonga auf dem schönsten Platz von San Telmo. Doch geht es hier ganz ungezwungen zu. Alte Tangohasen aus dem Viertel fordern junge Touristinnen auf, Profitänzerinnen drehen auch schon mal mit blutigen Anfängern eine Runde, zwischendurch tritt hin und wieder ein preisgekröntes Ensemble zu den schrägen Klängen eines Bandoneonspielers auf. Was zählt, ist der Spaß.
Hier kann man erleben, wie tief der Tango im Leben der Porteños verwurzelt und dass er keinesfalls zum bloßen Exportartikel verkommen ist. Im Gegenteil: Während die einen versuchen, aus dem Tanz ein Geschäft zu machen, entdecken viele jüngere und ganz junge Argentinier den Tango nach seinem Siegeszug durch Europa und die Welt neu. Auch solche, die ihn vorher als sentimentale alte Klamotte ihrer Großeltern abtaten. Gerade in der Krisenstimmung scheint er ihnen so etwas wie eine ideelle Heimat, eine Geborgenheit zu geben, die ihnen ihre unwirtliche Stadt sonst vorenthält. Der Alltag mag hart und grausam sein, aber abends, wenn sie sich frisch geduscht und parfümiert zu den Klängen von Carlos Gardel oder Juan D’Arienzo in den Armen anderer Tangobegeisterter wiegen, ist die Welt wieder in Ordnung. Was Psychologen und Therapeuten, deren Dichte in Buenos Aires weltweit am höchsten ist, nicht schaffen, das gleicht der Tango aus: Er ist Balsam für die wunden Seelen.
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