Kieler Ministerpräsident Carstensen: Der plumpe Taktierer
Erfahrungen von England bis Österreich zeigen: Der Kieler Ministerpräsident Carstensen spielt mit der vorzeitigen Parlamentsauflösung ein riskantes Spiel.
Nur ein paar Tage lang hielten manche Beobachter den Kieler Koalitionsbruch für eine gute Idee. Dem Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen (CDU), hieß es anfangs, sei eine schwarz-gelbe Mehrheit am 27. September schon so gut wie sicher. Vorwürfe richteten sich eher gegen den SPD-Landesvorsitzenden, der mit seiner akademisch-kühlen Ruppigkeit den idealen Buhmann für die inszenierte Regierungskrise abzugeben schien.
Inzwischen hat sich die Stimmung gedreht. Auch einem weniger gut informierten Publikum ist wieder zu Bewusstsein gekommen, dass der Ministerpräsident sein Land in der Bankenkrise an den Rand des Ruins führte und daher auch innerparteilich alles andere als unumstritten ist. Ergänzt wird das Bild durch Carstensens undurchsichtige Informationspolitik und den überstürzten Hinauswurf der SPD-Minister, die er binnen Tagesfrist aus den Büros jagte wie gescheiterte Investmentbanker - und dadurch erst das Misstrauen erlangte, das er sich am Donnerstag vom Landtag erhofft.
Auch ohne solche Tapsigkeiten wäre der Erfolg des Unterfangens höchst fragwürdig. Das zeigen die Erfahrungen aus Ländern, in denen eine vorzeitige Parlamentsauflösung leichter zu bewerkstelligen ist als hierzulande. Fast jeder Regierungschef, der sich von Neuwahlen einen taktischen Vorteil versprach, wurde von den WählerInnen dafür bestraft.
So machte der französische Staatspräsident Jacques Chirac einen schweren Fehler, als er im April 1997 die Nationalversammlung auflöste. Sein Premierminister Alain Juppé hatte dort eine knappe Mehrheit. Von günstigen Umfragewerten verführt, hoffte Chirac den Vorsprung auszubauen und für die folgenden fünf Jahre zu sichern. Das Ergebnis war eine herbe Niederlage. Der neue Premier Lionel Jospin konnte sein Glück kaum fassen - und zwang Chirac in eine fünfjährige Cohabitation, der bislang längsten in der Geschichte der Fünften Republik.
In England schließlich, wo der Premierminister so souverän über den Wahltermin bestimmen kann wie nirgends sonst, hat sich das Recht in der Praxis meist als Fluch erwiesen. In der Hoffnung auf bessere Umfragewerte zögert der aktuelle Amtsinhaber Gordon Brown den Urnengang immer weiter hinaus - so lange, bis seine Chancen am Ende gegen Null tendieren.
Als Gegenbeispiel taugt auch nicht die Neuwahl, die CDU-Kanzler Helmut Kohl im Frühjahr 1983 ausrief - und gewann. Kohl spekulierte damals nicht auf eine neue Mehrheit, die er bereits hatte, sondern auf eine nachträgliche Legitimation des Regierungswechsels. Die vorgezogene Wahl von 2005, bei der Gerhard Schröders SPD deutlich besser abschnitt als erwartet, deutet sogar auf den umgekehrten Zusammenhang: Außerplanmäßige Wahlen können Umfragemehrheiten offenbar eher kippen als befestigen.
Es stimmt zwar, der reguläre Wahltermin im nächsten Frühjahr wäre für Carstensen riskant, und im September kann er auf den Kanzlerinnenbonus bauen. Aber wird wirklich jeder, der sein Kreuz bei Merkel macht, für den plumpen Taktierer stimmen - oder wird Carstensens Agieren die Bundespartei sogar Stimmen kosten? Und ist es wirklich sicher, dass eine Wahl im nächsten Frühjahr für den Ministerpräsidenten schon verloren wäre? So marode die HSH Nordbank auch ist, so sehr Schwarz-Gelb im Bund die Wähler auch vergraulen könnte - in der Politik kann viel Überraschendes passieren in einem Dreivierteljahr.
Läge Kiel nicht so weit im Norden, hätte Carstensen auch die österreichische Regierungskrise des Jahres 2008 in besserer Erinnerung. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident agiert, wie es seinerzeit ÖVP-Chef und Vizekanzler Wilhelm Molterer tat. Mit den Worten "Es reicht!" beendete Molterer die Koalition in der sicheren Annahme, die SPÖ des unpopulären Kanzlers Alfred Gusenbauer werde die Neuwahl sowieso verlieren.
Am Ende mussten beide Politiker abtreten, beide Parteien büßten Stimmen ein. Die große Koalition wurde mit neuem Personal forgesetzt - eine Entwicklung, die auch im Norden nicht ausgeschlossen ist: Wenn Carstensen die angestrebte schwarz-gelbe Mehrheit verfehlt, was in einem Sechsparteienparlament mit SSW und Linkspartei leicht passieren kann, würde er das politisch kaum überleben. Und in der SPD läuft sich Ex-Kultusministerin Uta Erdsiek-Rave mit Landtagsreden und öffentlichem Kistenpacken warm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
US-Präsidentschaftswahlen
Warum wählen sie Trump?
Die US-Wahl auf taz.de
Die Rückkehr des Donald Trump
Geopolitik der US-Wahlen
Am Ende der alten Welt