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Sonntaz-Tour in WarnemündeZu wenig Dorsch, zu wenig Heringsjungfisch

Wie sieht die Wirklichkeit jenseits der Politwelt aus? Eine Reise führt in den Alltag, zuerst hoch in den Norden ans Meer, nach Warnemünde.

WARNEMÜNDE taz | Das Lebensgefühl im Norden? "Welches Lebensgefühl?", fragt der Düwel. "Düwel" nennt sich der Fischer. Mit Bartstoppeln im Gesicht und Zigarette im Mund sitzt er im wasserdichten Overall an seinem Stand auf dem Fischmarkt am Alten Strom. Vor ihm liegen ein paar Dutzend Flundern. Bäumt sich eine auf, sagt er, "halt still".

In Warnemünde lebt der Düwel, an der Ostsee. Erste Station einer Erkundung in den Tagen vor der Wahl. In alle vier Himmelsrichtungen führt die Reise.

Zwei Kumpel stehen beim Düwel. Einer ist auf Hartz IV. Der andere, ein Hüne mit knallrotem Kopf, war früher auf der Werft. Die gehört jetzt den Russen. "Man macht doch keine Geschäfte mit denen", sagt er. "Die Technologie wollen die. In drei Jahren ist alles abgebaut, und dann gute Nacht."

Da schlendert eine Touristin am Fischstand vorbei. "Das ist alles so wunderschön hier", sagt sie. "Ja, wunderschön für die Gäste", knurrt der Hartz-IVler. Er macht eine ausladende Handbewegung, über den Alten Strom, wo die Schiffe, eins hinterm anderen, ihre Masten in den Himmel recken. Möwen kreischen.

Flankiert wird das Ufer von einer Promenade mit renovierten Kapitänshäusern. Die Terrassen sind mit Bougainvillea, Oleander und Palmen geschmückt. Ein Hauch Karibik im Norden. Für die Fischer aber ist das mit der Karibik ein Unglück. "Zu wenig Dorsch", sagt eine Fischerin, die neben dem Düwel verkauft, "das Wasser zu warm". Heringsjungfisch gibt es deshalb auch zu wenig. Und darum wurde den Fischern die Fangquote für Hering reduziert. Wer nachfragt, löst einen Redeschwall aus. "Warum dürfen die Fangflotten weitermachen, während wir jeden Fisch vorzählen müssen", fragen sie sich. "Bald gewöhn ich mich an den Gedanken von Hartz IV", sagt der Düwel. "Kein Finanzamt, keine Fischereimeisterei, und die Miete krieg ich auch noch dazu." Abfällig nickt er in Richtung des Hartz-IVlers. Der will sich wehren. Das zieht in der Runde eine Tirade gegen die Obrigkeit nach sich. Am Schluss sagt der Hartz-IVler: "Sauf dich voll und fress dich dick und halt das Maul von Politik."Als sie wieder zu sich kommen, meint einer, "aber dass man die Jugend nicht mehr motiviert, das ist ein Skandal".

In den engen Straßen abseits vom Meer stehen die Katen dicht gedrängt. Eine Bilderbuchstadt, eine Modellstadt - aufgestellt, um die Wirklichkeit zu täuschen. "Aber die Wirklichkeit täuscht nicht", sagt die Frau, die bei "Käppn Brass" Schiffstouren verkauft. Die alleinerziehende Warnemünderin wohnt in einer Neubausiedlung, "die einzige Wohnlage, die sich die Einheimischen leisten können". Zu DDR-Zeiten war sie Lehrerin. Dass die Leute heute nur dumm gemacht werden, vom Fernsehen, von den Politikern, das ist ihr eine Herzensangelegenheit der Wut. Sie merkt es bei den Kindern. Der Sohn, Erstwähler, der ginge noch. Aber die Tochter, die wisse gerade, wo im Katalog die Kochtöpfe sind. In der Mutter kocht es auf andere Art. "Nur die Reichen werden belohnt - das soll Politik sein?"

Weiter. Vorbei an Läden, die Kitsch anbieten, als wären es Juwelen, durch Gassen zum Leuchtturm mit Blick aufs Meer. Das große Haus am Platz ziert ein Schild "zu verkaufen", und die junge Inhaberin der Bambusbar, in der man Fruchtsäfte trinkt, zuckt mit den Schultern bei der Frage nach der Befindlichkeit. Für sie ist Warnemünde ein Anfang, eine Chance.

Die Stadt ist überschaubar. Das hilft, wenn die Welt unübersichtlich wird. An der Mühlenstraße hinter der Kirche, einer Stadtallee, sind die Häuser niedrig, die Kronen der Linden zu Kugeln gestutzt. Kopflinden heißen sie und erinnern an Frankreich. An einer Ecke wird an alten Tischen Wein getrunken. Jan, dem der Laden gehört, meint, die Wirtschaftskrise, die hätte Warnemünde einen Boom beschert. Man fährt an die Ostsee, weil es billiger sei. Früher ging er zur Schifffahrtsschule. Jetzt ist er Gastronom. Immerhin am Meer.

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