Strategien für Afghanistan: Hiobsbotschaften vom Hindukusch

Die internationale Gemeinschaft bemüht sich seit acht Jahren um ein funktionierendes Staatswesen in Afghanistan. Doch die Strategien sind falsch. Eine Debatte von Böll-Stiftung und taz.

So sollte die Zukunft aussehen. Doch bisher wurden nur Terroristen im großen Stil gejagt und das "nation building" dabei vergessen. Bild: reuters

Seit acht Jahren bemüht sich die internationale Gemeinschaft, in Afghanistan nach 30 Kriegsjahren ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen und den Bürgern Sicherheit zu garantieren. Diese Bemühungen könnten in den nächsten zwölf Monaten scheitern, warnte jüngst der US-Oberbefehlshaber in Afghanistan, General Stanley McChrystal. Eine grundsätzliche Revision der Strategie sei erforderlich.

Es ist eine Einsicht, die spät kommt, womöglich zu spät. Die Heinrich-Böll-Stiftung und die taz haben zu ihrem Jour Fixe vom Oktober drei der besten Afghanistan-Kenner in Deutschland für eine kritische Bestandsaufnahme eingeladen. Susanne Koelbl, Spiegel-Reporterin und Buchautorin ("Krieg am Hindukusch", mit Olaf Ihlau), hat erst vor wenigen Wochen am Bundeswehrstandort Kundus recherchiert.

Winfried Nachtwei, Grünen-Abgeordneter und Verteidigungsexperte seiner Fraktion, kehrte vor drei Wochen von seiner 14. Abgeordnetenreise aus Afghanistan zurück. Es war auch die letzte, denn er scheidet aus dem Bundestag aus.

Thomas Ruttig verbringt seit vielen Jahren einen großen Teil seiner Zeit am Hindukusch, wo er als Diplomat für das DDR-Außenministerium, die EU, die Vereinten Nationen und die Bundesregierung gearbeitet hat. Heute ist er Co-Direktor des neu gegründeten Afghanistan Analysts Network und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik. Es moderierte Sven Hansen, Asienredakteur der taz.

Kritik an der Strategie des Westens in Afghanistan gibt es schon lange. Vier- bis fünfmal soviel Geld wie in den zivilen Aufbau fließt in dessen militärische Komponente. Mit willkürlichen Luftangriffen und Durchsuchungen verspielten die Soldaten den Goodwill der Bevölkerung. Und der Westen hat mit den Warlords der Nordallianz eine korrupte und undemokratische neue Führung im Land installiert. Aktuell steht ein weiterer Vorwurf im Vordergrund: Der Westen dulde den offensichtlichen Wahlbetrug durch Präsident Hamid Karsai.

"Systematischer Wahlbetrug Karsais"

Die Wahl am 20. August sei mit Kosten von 320 Millionen Dollar nicht nur teuer gewesen, sagte Thomas Ruttig, sondern auch schlecht vorbereitet. Schon das Wählerregister mit 17 Millionen Namen sei fragwürdig gewesen. "Karsai hat offensichtlich den Eindruck gewonnen, dass er diesmal mit fairen Mitteln nicht gewinnen kann." Die EU-Wahlbeobachter urteilten später, dass bis zu einem Viertel der Stimmen zweifelhafter Natur seien. Er habe in Kabul gehört, dass nicht 5,5 Millionen Afghanen gewählt hätten, sondern in Wirklichkeit nur 2,5 Millionen. "Es gab also systematischen und weit verbreiteten Wahlbetrug."

Inzwischen sind auch Zahlen der Uno bekannt geworden, auch wenn sie deren Vertreter in Kabul, der Norweger Kai Eide, eigentlich nicht veröffentlichen wollte: In der Provinz Helmand, wo Karsai offiziell 113.000 der 135.000 abgegebenen Stimmen erhielt, hätten höchstens 38.000 Wähler tatsächlich an der Abstimmung teilgenommen, möglicherweise sogar nur 5.000. Eides Stellvertreter Peter Galbraith verlor nach seinem Drängen auf eine umfassende Aufklärung der Betrugsvorwürfe im September seinen Job. Der Schaden, den die Uno-Mission Unama durch den Maulkorb für Galbraith genommen hat, ist noch nicht absehbar.

Sechs Wochen nach der Wahl steht noch immer kein offizielles Wahlergebnis fest. Noch streitet die von Karsai eingesetzte Wahlkommission mit der international getragenen Beschwerdekommission um das Ausmaß der Überprüfung fragwürdiger Ergebnisse. Ruttig hielt es für unverzichtbar, dass alle Unklarheiten aufgeklärt werden. Dann müsse wohl, vermutlich erst im kommenden Jahr, eine Stichwahl über den nächsten afghanischen Präsidenten entscheiden.

"Legitimations-Totalschaden"

Doch trotz der immer wieder von Washington bis Berlin erhobenen Warnung, dass nur eine saubere Wahl Karsai die benötigte Legitimität verschaffe, ist zu erwarten, dass er bald zum Sieger ausgerufen wird. Die Uno-Spitze und die wichtigsten Länder haben sich im Streit um den Wahlbetrug demonstrativ hinter Eide gestellt. "Es sieht nach einer Augen-zu-und-durch-Strategie aus", meinte Ruttig. Sonst hätte sich die Beschwerdekommission nicht auf immer neue Kompromisse eingelassen.

Das Resultat in Kabul, so Winfried Nachtwei, sei ein "Legitimationstotalschaden", der auch das deutsche Engagement untergrabe, ein "Tiefschlag". Er vermisst bisher eine eigene Position der Bundesregierung, die hier nach seiner Ansicht ohne Angst vor negativen Konsequenzen klar hätte Stellung beziehen können.

Auch Susanne Koelbl sähe gern den Willen der Bundesregierung "Standards zu setzen und durchzusetzen", erkennt aber an, dass Deutschland sich mit seiner Afghanistan-Mission in das Handeln der Verbündeten und die Vorgaben von Uno, Nato und den USA eingliedern muss. Es sei nie wirklich klar definiert worden, warum Deutschland Truppen nach Afghanistan gesandt habe. In erster Linie "verteidigen sie ihr Bündnis und das gute Verhältnis zu den Amerikanern, haben es aber nie so formuliert", sagte sie. "Dieses Durchschummeln bei der Begründung eines nationalen Interesses reicht nicht aus."

Zwischen 2003 und 2006, als es in Nordafghanistan noch friedlich war, habe der deutsche Einsatz die Chancen nicht genutzt, den zivilen Aufbau voranzutreiben. Beim Aufbau der Polizei wurde zu lange gezögert. Als dann die Gewalt zunahm, war unklar, unter welchen Umständen die Bundeswehr gegen die Taliban aktiv werden konnte. Ruttig beklagte, dass die Bundeswehr nicht in der Lage gewesen sei, durch umfassende Patrouillen der Zivilbevölkerung ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Sie habe sich zu sehr auf den Eigenschutz konzentriert und die Strategie der Taliban verkannt.

Nachtwei widersprach da und merkte an, dass ein aggressiveres Vorgehen rasch dazu geführt hätte, dass auch die Bundeswehr wie die Kontingente anderer Staaten von den Afghanen als Besatzungsarmee betrachtet worden wäre. Der Schutz der eigenen Soldaten entsprach auch dem, was die deutsche Öffentlichkeit verlangte.

Doch zwischen Nichtstun und Draufhauen gebe es viele Möglichkeiten, Gefährdungen entgegenzutreten, entgegnete Koelbl. Die Führungsfiguren der Taliban im Raum Kundus waren lange bekannt. "Doch man wollte nicht handeln", kritisierte sie. Der afghanischen Bevölkerung wurde kein Gefühl der Sicherheit gegeben, und es gab kaum Aufbauhilfe, etwa bei der Verwaltung. Nachtwei ergänzte, dass andere Staaten längst Generalkonsulate in Masar-i-Sharif, der wichtigsten Stadt im Norden Afghanistans, eingerichtet hätten, dass bis heute aber nur ein einziger Vertreter des Auswärtigen Amtes im Norden präsent sei.

"Eine höchst komplexe Herausforderung"

Ruttig beschrieb die Dynamik der Entwicklung in Kundus, wo schon früher, anders als sonst im Norden, Paschtunen lebten und die Taliban deshalb ab 2003 nach und nach wieder Fuß fassen konnten. Die Lage dort wird in Deutschland besonders aufmerksam verfolgt, vor allem nach dem von einem deutschen Oberst angeordneten fatalen Luftangriff auf zwei entführte Tanklaster. Ruttig bezweifelte, dass diese eine unmittelbare Gefahr für die deutschen Soldaten darstellten, als sie im Flussbett festgefahren waren. "Wie so oft in Afghanistan wurde nicht die Wahrheit gesagt, und dann verstrickte man sich in den eigenen Widersprüchen".

Inzwischen sei es sehr schwierig geworden, die diversen Aspekte des Konflikts in Afghanistan so voneinander zu trennen, dass man zu einer neuen Strategie kommen könne. Auch Nachtwei sagte: "Afghanistan ist von der Komplexität der Aufgaben, von den Kosten und von den Opfern her die größte Herausforderung für die bundesdeutsche Außen- und Sicherheitspolitik."

Wäre die Konsequenz, wie eine Zuhörerin in der Debatte meinte, den gesamten Einsatz in Frage zu stellen? Nein, es sei richtig gewesen, befand Nachtwei, nach 9/11 in Afghanistan die Infrastruktur für die Ausbildung von Abertausenden Terroristen unschädlich zu machen. Auch der Petersberg-Prozess, auf dem sich 2001 über die politischen Strukturen Afghanistans verständigt wurde, sei sinnvoll gewesen.

Man möge vergleichen: 1989 habe die internationale Gemeinschaft nach dem Abzug der Sowjettruppen Afghanistan sich selbst überlassen, das Resultat waren Jahre des blutigen Bürgerkriegs, die Zerstörung Kabuls und die Herrschaft der Taliban. Aber die Absichten wurden nicht umgesetzt: Die USA wollten 2001 vor allem Terroristen jagen und hatten kein Interesse am Aufbau des afghanischen Staates. "Nationbuilding war was für Weicheier", beschrieb Nachtwei die Haltung der Bush-Regierung. "Es gab eine Symbiose zwischen den Taliban und Al-Qaida, deshalb tragen die Taliban eine Mitverantwortung für 9/11", sagte Ruttig.

Heute, unter der Führung von Obama und McChrystal, haben die USA diesen Fehler erkannt und wollen ihre Strategie ändern. Ob die Afghanen dies als Kursänderung wahrnehmen, wird sich zeigen. "Wir haben nun die verdammte politische Schuldigkeit", sagt Thomas Ruttig, "uns weiter um Afghanistan zu kümmern - zunächst, indem wir unsere Fehler erkennen und sie nicht fortsetzen."

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