Kolumne Laufen Lernen: Was heißt schon Ehrenpreis?
Wie ein Bierkrug vom Flohmarkt Rätsel aufgeben und ganz schön desillusionieren kann.
L etztes Wochenende schlenderte ich bei einem Besuch in Berlin über einen Flohmarkt. Bei einem Händler standen Berge von Kaffeetassen, Gläser und Bierkrüge. Bierkrüge aus Stein und Glas, Krüge mit und ohne Blechdeckel, mit Hirschgeweihen als Henkel oder auch ganz ohne Handhalterung. Wahrscheinlich verweilte ich zu lange am Stand, denn schon sprach mich der Händler an: "Ich habe noch mehr Krüge", er hob das Tischtuch hoch und zum Vorschein kamen drei weitere Kisten voller Bierkrüge. "Für Sie habe ich einen ganz besonderen", und schon hielt er mir einen Glaskrug vor die Nase.
Es war ein einfacher Krug, ohne Schnörkel und Verzierung, mit einem ebenso einfachen Blechdeckel. Dort entdeckte ich oxidierte schwarze Flecken. Wahrscheinlich uralt, das Ding, dachte ich und nahm ihn in die Hand. "Sie müssen die Gravur lesen", zwinkerte mir der Händler zu, "auf der Innenfläche des Deckels." Ich öffnete den Deckel mit dem Daumen und entdeckte dort eine Inschrift: "Ehrenpreis im Laufen - Turnverein zur Linde - Oberaden 30.08.96".
Plötzlich bekam der Bierkrug eine andere Bedeutung. "Ehrenpreis im Laufen." Klar, der Händler hatte mich erkannt. "Turnverein zur Linde - Oberaden." Schon damals also, dachte ich, vor 113 Jahren, verrückt. Welche Streckenlänge der Mann wohl gelaufen ist? Oder war es eine Frau? Nein, zu revolutionär, in Oberaden, 1896. Oder bedeutete "Ehrenpreis" etwas anderes? Wurde der Preis am Ende gar für einen Teilnehmer der ersten Olympischen Spiele 1896 vergeben? War ein Läufer vom Turnverein zur Linde aus Oberaden Olympiateilnehmer? Möglich wäre es.
Dieter Baumann (42) ist mehrfacher Olympiasieger in verschiedenen Laufdisziplinen, arbeitet als Motivationstrainer und Autor. Er träumt davon, ein "Lebensläufer" zu sein, für den der Weg immer wichtiger bleibt als das Ziel.
Natürlich kaufte ich den Krug. Preis? Spielte keine Rolle. Zu Hause angekommen, schenkte ich mir zunächst ein Bier aus. "Ehrenpreis im Laufen". Bei jedem Schluck konnte ich die Inschrift auf dem offenen Bierdeckel lesen. "Was ist so besonders an diesem Krug?", wollte mein Sohn wissen. "Vor über 100 Jahren hat den ein Läufer gewonnen. Wahrscheinlich war er Olympiateilnehmer in Athen und in Oberaden haben sie ihm einen Empfang bereitet. Damals, seine Freunde vom Turnverein zur Linde", sagte ich mehr zu mir selbst als zu meinem Sohn. Nun betrachtete auch mein Sohn den Krug sehr andächtig. Er drehte ihn nach links und rechts und sagte: "Der Krug ist kaputt. Da, er hat einen Sprung, und wenn du nicht aufpasst, läuft dir das Bier aus." Tatsächlich, nur wenige Millimeter vom Krugboden lief der Sprung einmal rundherum. Nur ein wildes Anstoßen - Prost! - würde schon reichen. Nicht auszudenken, das gute Stück. "Und was heißt schon Ehrenpreis?", meinte mein Sohn, als er die Inschrift las. "Das war ein Kirmeslauf nach einer Bierwette. Sponsor war der Gasthof zur Linde", er lachte.
"Olympiateilnehmer? Papa, du spinnst!" "Komm mit", sagte er nach einer kurzen Pause. "Wir schauen im Internet nach." Er tippte "Oberaden" ein. Teilort von Bergkamen, stand da. Nun tippte er "Turnverein zur Linde, Oberaden" ein. Nichts. "Wie? Kein Turnverein zur Linde?" "Der erste Sportverein in Oberaden war der SuS, 1921, Fußballabteilung", dozierte mein Sohn. "Und warum eigentlich 113 Jahre", fragte mein Sohn? "30.08.96", las er laut vom Bierdeckel ab. "Das Ding ist gerade einmal 13 Jahr alt und schon kaputt." "Und was ist mit Turnverein zur Linde?" "Ach Papa, du glaubst auch alles."
Ich schenkte mir ein weiteres Bier ein und schaute den ganzen Abend auf den Krug. Und er ist doch alt! Scheiß Internet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!