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DDR-Ausreise am Tag nach dem MauerfallDas große Erwarten

Die Mauer war weg. Die Ausreise aus der DDR vollbracht. Aber wie weiter? Notizen aus dem völlig überfüllten Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde.

Autoschlangen Richtung Westen am Berliner Checkpoint Charlie. Mittendrin auch taz-Autorin Barbara Bollwahn. Bild: ap

In der Nacht vom 10. auf den 11. November 1989 fuhr ich, im Ausweis einen Stempel zur einmaligen Ausreise aus der DDR, von Leipzig nach Westberlin. Nachdem ich bei einer Studentin in Berlin-Wilmersdorf, die ich einige Jahre zuvor in Leipzig kennen gelernt hatte, eingezogen war, musste ich mich im Notaufnahmelager Marienfelde als DDR-Flüchtling registrieren. In einem Notizblock der Pharmaindustrie mit Werbung für Medikamente gegen Schmerzen, Angst und Depressionen, von dem ich nicht mehr weiß, woher ich den hatte, notierte ich meine Gedanken in dem überfüllten Aufnahmelager.

Tja, wie soll man das alles aufschreiben, was selbst zu schnell geht, um den Stift hinterherkommen zu lassen. Vielleicht besser in Stichpunkten: Viel zu viele Menschen; was ist es nur, was den DDR-Bürger sofort verrät? Schokoladen,- bananenverschlingende, Mist drauf los kaufende, alles kostenlos in Anspruch nehmende Leute. Es ist keine Arroganz, nur das Betrachten von außen. Was erwarten sie? Das ist es - es wird alles erwartet.

Die Frau mit den vier Kindern, die alte zahnlose polnische Frau, das aufgedonnerte junge Pärchen, das krampfhaft versucht, westlich zu wirken, was aber nach hinten los geht, selbst die Frau im Rollstuhl und eine andere mit Blindenstock erwarten. Alle erwarten. Ich selbst natürlich auch. Aber ich erwarte von mir selber. Ich erwarte von mir selber, die Dinge in den Griff zu kriegen. Unerträglich, abhängig zu sein oder angewiesen auf Wohltätigkeiten, Spenden, Schulterklopfen und "Es wird schon werden".

An diese Ferienlagerausgelassenheit im überquellenden Aufnahmelager und wie sie mich deprimierte, daran kann ich mich auch 20 Jahre später noch gut erinnern. Ich fragte mich, wie lange die Unbekümmertheit der Wartenden andauern würde, und ob sie ihre Gleichgültigkeit darüber, wohin sie geschickt wurden, in welches Bundesland, irgendwann bereuen würden. Im Anstehen geübt, reihten sie sich geduldig in die Schlangen für die verschiedenen Bundesländer im Westen ein, wo sie dann in Landesdurchgangsheime kamen. Ich war froh über mein WG-Zimmer in Wilmersdorf.

In der Nacht vom 9. November 1989, dem Tag, als Günter Schabowski Reisefreiheit für alle DDR-Bürger verkündete, hatte ich in meiner Wohnung in der Ernst Thälmann Straße in Leipzig zwei Koffer gepackt. Am nächsten Tag war ich zur Polizei gegangen und hatte mir einen Stempel zur einmaligen Ausreise geholt. In den nächsten 24 Stunden musste ich die DDR verlassen. Als ich am Abend auf dem Leipziger Hauptbahnhof ankam, war schnell klar, dass Zugfahren unmöglich war. Alle Züge Richtung Berlin waren völlig überfüllt. Ich beschloss, ein Taxi zu nehmen. Das passte zu dem Wahnsinn der ganzen Situation. Nur wollte sich kein Taxifahrer für Ostgeld auf den Weg machen. Zu groß war zudem die Angst, das Benzin könnte ausgehen. Schließlich fand ich Günther, der mich für Westmark fuhr.

Die Devisen hatte ich heimlich auf der Leipziger Messe verdient und für den "Tag X" in meiner Wohnung versteckt, in einem auf der Rückseite einer riesigen Weltkarte befestigten Umschlag. Wir fuhren mit Günthers Taxi, einem Wolga, zu ihm nach Hause, von wo aus es in seinem Privatauto, einem Trabant, weiter ging, versorgt mit Kaffee und belegten Broten von seiner Frau. Auf den Straßen überholten wir jede Menge Trabants, Wartburgs, Shigulis und Skodas, die "Wir kommen zurück"-Schilder auf die Scheiben geklebt hatten.

Günther, der auch ohne Stempel im Ausweis problemlos über die Grenze kam, setzte mich an der Gedächtniskirche ab und fuhr zurück in die Leipziger Tieflandsbucht. Einige Stunden später klingelte ich bei der Studentin in Wilmersdorf. Sie machte ein üppiges Begrüßungsfrühstück, bei dem ich die Schale einer Kiwi mit aß, worauf sie mich zu spät aufmerksam machte. Den pelzigen Geschmack verspüre ich noch heute auf der Zunge, wenn ich nur eine Kiwi sehe.

Um der deprimierenden Atmosphäre im Flüchtlingslager zu entgehen, flüchtete ich mich in eine Eckkneipe. Aber auch dort war es nicht weniger deprimierend.

Der arme Hund, der in der Kneipe am Nebentisch sitzt, hat schon paar Bier hinter sich. Mit Tränen in den Augen und dem Bedürfnis zu reden, hält er die Kellnerin am Tisch fest. Für wen rechtfertigt er sich? Warum ist er nicht bei Haus und Auto in Cottbus geblieben? Wen interessiert dieses oder ein anderes ganz persönliches Schicksal? Was soll aus ihm werden? Und er brabbelt weiter vor sich hin. Jeder trifft ja seine Entscheidung für sich selber. Wie kann man aber auf ein "Bruder- und Schwestergeblabbel" hereinfallen oder sich von einem Begrüßungsgeld locken lassen?

Jetzt steht der Mann vom Nebentisch neben mir an der Musikbox, wollte irgendwie ein Gespräch mit mir anfangen, es ist aber klar, er wäre nicht wieder loszuwerden. So, jetzt muss ich irgendwie weiterschreiben, um beschäftigt zu wirken, da ich nicht mit ihm reden will, wirklich ein armer Hund. Es ist traurig. Der goldene Westen und so viele fallen drauf rein. Er lässt nicht locker. Ich weiß ja selber nicht, wie die Musikbox funktioniert.

Und an der Bar ein anderer aus der DDR, der sofort einen Hereinkommenden in Beschlag nimmt und ihm mitteilen muss, er wird es schaffen, er hat es bis jetzt immer geschafft. Nun sind die beiden irregeführten Grenzgänger miteinander im Gespräch. Auf jeden Fall verstehen sie sich. Sie wissen, wovon der andere spricht, was er meint. Sie haben das gleiche Problem: irgendwas rechtfertigen, sich gegenseitig Mut zusprechen. Es ist peinlich.

Nun wird das Interesse irgendeines Geschäftsmannes mit einem japanischen Begleiter erhascht. Und wieder die Stimme vom Nebentisch: "Weißt du, wie lange es dauert - Häuschen, Auto, Frau, vier Kinder und dann das Handtuch schmeißen?! Und jetzt was? Und jetzt was?" Der andere von der Bar: "Ruhig Blut. Dann werden wir sehen, was Phase ist. Ist ja Mist, man kriegt keine Karo (Starke filterlose DDR-Zigarette, Anm.d.Red.) Totaler Anschiss."

Nachdem ich meinen Aufnahmeschein zur Übersiedlung nach Westberlin ausgefüllt hatte, in dem ich als Adresse die Paderborner Straße in Wilmersdorf eingetragen hatte, ging ich zurück ins Aufnahmelager. Wieder musste ich ewig warten und wurde Zeugin einer absurden Szene. Ein schlaksiger junger Mann mit einem großen Rucksack auf dem Rücken kam herein, stellte sich in die Mitte des überfüllten Raumes und fragte in breitestem Sächsisch: "Gommd jemond mid noch Amöriga?" Niemand wollte mit nach Amerika.

Das gelobte Land hieß Bundesrepublik Deutschland. Als ich endlich dran war, strich eine Frau die von mir eingetragene Adresse im Aufnahmeschein durch und trug in der Rubrik "Beabsichtiger Wohnsitz im Bundesgebiet" ein "Landesdurchgangsheim Osthofen, Rheinland-Pfalz". Ich dachte, ich spinne. "Sie dürfen nicht in Westberlin bleiben", teilte sie mir in einem Ton mit, der keine Widerrede duldete. "Westberlin hat seine Quote zur Aufnahme von Flüchtlingen erfüllt. Die Abfertigungsschlange nach Rheinland Pfalz ist dort hinten."

Noch heute wird mir flau im Magen, wenn ich daran denke, wie mir nicht erlaubt wurde, in Berlin zu bleiben. Was um alles in der Welt sollte ich in Osthofen in Rheinland-Pfalz, einem Bundesland, von dem ich nicht einmal wusste, wo es genau lag? Meine Füße trugen mich nicht zu der mir zugewiesenen Abfertigungsschlange. Langsam, ganz langsam lief ich Richtung Ausgang, im Rücken die Angst, dass mich jemand zurück pfeifen könnte. Doch nichts passierte. Ich konnte gehen, wohin ich wollte.

Das war der Westen, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Die Strecke bis zur U-Bahn rannte ich vorsichtshalber trotzdem, als ginge es um mein Leben. Es ging um mein Leben. Ich wüsste zu gern, was aus den Menschen von damals und ihren Hoffnungen geworden ist. Aus dem Taxifahrer, aus dem verzweifelten Mann aus Cottbus, aus dem siegessicheren Angeber, aus dem Sachsen mit dem Rucksack voller Träume.

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4 Kommentare

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  • R
    Ruth

    Danke für diesen tollen Artikel zum Thema Ausreise. So wird Geschichte erst anschaulich!

    Ich habe einen Literaturtipp für alle Interessierten:

     

    Bindig, Belinda: „Vorher war alles gut, alles normal – und dann ist man halt aussätzig“ Der Umgang mit Ausreisenden in der DDR. In: Blask, Falk/Bindig, Belinda/Gelhausen, Franck (Hrsg.): Ich packe meinen Koffer. Eine ethnologische Spurensuche rund um OstWest-Ausreisende und Spätaussiedelnde, Berlin: Ringbuch Verlag 2009, S. 17-33, ISBN 978-3-941561-01-4

     

    Ein wirklich schönes Buch von jungen interessierten Studenten, die mit Zeitzeugen gesprochen haben. In dem Buch gibt es auch noch einen Beitrag, der von dem umgekehrten Weg - also EINREISE in die DDR - handelt (Denise Schwesig).

     

    Liebe Grüße,

    Ruth

  • O
    ole

    Der Rucksack Sachse hat es geschafft. Er betreibt in Jackson, Wyoming ein kleines Restaurant mit thüringischer und sächsischer Küche. Nebenher hat er noch einen kleinen Laden, in welchem er, meist aber seine Frau Cynthia erzgebirgische Schnitzkunst und Weihnachtsutensilien sowie die Original Crottendorfer Räucherkerzchen an den Tourist und Amerikaner bringen.

    Sein Restaurant zählt heute zu den absoluten Gourmettipps in Amerika. Für viele Besuchergruppen des nahegelegenen Yellowstone ist ein Abstecher schon Pflichtprogramm. In gemütlicher Runde, bei einem köstlich-sächsischen Pils erzählt er den Touristen von seinen Abenteuern in der ehem. DDR, von Tempo-Linsen und der Beschaffung von Bohnenkaffee, dem 1:33 Gemisch der qualmenden Pappen und seinen ersten BASIC Versuchen am KC85/3 aus der mühlhausener Computerschmiede, von all den wichtigen Funktionären in den Büros der Kombinate mit ihren ewig grauen Anzügen und ewig dummen Parteisprüchen.

    Und an schönen Sommerabenden sitzt er oft mit seiner Frau Cynthia vor'm Haus, wirft einen Blick in die faszinierende Landschaft, lauscht den Schreien paarungswilliger Rotluchse und denkt sich: Nur gut, daß damals keiner mitkommen wollte.

     

     

    Günther ist mittlerweile im Ruhestand. Er hatte noch viele derartige Fahrten unternommen. Nach der Wende hatte er sich dann selbstständig gemacht. Heute leitet sein Sohn die Geschäfte des kleinen Taxiunternehmens. Günther und seine Frau Erika haben sich in der Leipziger Seenlandschaft, welche aus den ehemaligen Braunkohlelöchern hervorging ein kleines, schickes Häuschen gebaut. Noch heute denkt er gerne an diese Zeit im Jahre 1989. An die über 100 Fahrten nach Berlin und die merkwürdigen DDR-Bürger, die ihr erspartes Westgeld dafür hergaben.

    Seine letzte Berlinfahrt machte er ohne Fahrgast. Er fuhr zum Alexanderplatz. Dort gab es inzwischen einen kleinen, feinen Devisenschwarztausch. Bei dem ihn schon bekannten und befreundeten Vietnamesen Hung tauschte er das Westgeld zum Vorzugskurs von 1:11 in DDR-Mark um. So ararbeitete er sich quasi in wenigen Tagen durch seine Fahrten eine schöne Stange Ostmark, die er später gleichmäßig auf die Konten und Sparbücher der Verwandtschaft, Kinder, Eltern und Schwiegereltern verteilte und so bei der Währungsunion 1990 den Umtauschkurs von 1:1 maximal ausschöpfen konnte. Und auch die 1:2 Beträge oberhalb der festgelegten Grenzen ergaben noch ein stattliches Sümmchen.

     

    Das Schicksal der anderen Personen ist unbekannt.

  • EK
    Ein Kieler Matrose von der Volksmarinedivision

    Bei genauer betrachtung der historischen entwicklung müsste im öffentlichen gedenken und in der erinnerung eigentlich ein bogen geschlagen werden von der Oktoberreform und Novemberrevolution des jahres 1918 - stichworte: rekonstituierung und reform des reichstages vom 3. Oktober 1918 an, Kieler Matrosenaufstand am 4. November, Proklamation der Deutschen Republik und der Freien Sozialistischen Republik durch Philipp Scheidemann (SPD) und Karl Liebknecht (USPD) am 9. November 1918 - über das versagen der bürgerlichen eliten 1933 und die Reichspogromnacht 8./9. November 1938 bis hin zur Berliner maueröffnung am 9. Nov. 1989, welche Europa symbolisch wiedervereinigte.

    Diese daten stehen in einem zusammenhang und dürfen nicht isoliert voneinander betrachtet werden.

    Ein fragmentiertes gedenken und eine fragmentierte erinnerung, wie es die bundesregierung gestern wieder vor dem Brandenburger Tor zelebriert hat, wird der geschichte nicht gerecht.

    In Großbritannien und Nordamerika wird dieser tage des endes des Ersten Weltkrieges in form des Remembrance Days, der 11. November 1918 (!), sowie der millionen opfer von krieg und genozid, gedacht, während Merkel-Deutschland wie gewohnt nabelschau betreibt, sich in verdrängung übt und den karneval einläutet.

    Das ist pietätlosigkeit und geschichtsklitterung in reinkultur! Ich schäme mich für diese miserable deutsche regieleistung!

  • S
    SPD-Mitglied

    So einen Artikel kann nur ein ewig gestriger Schreiben, der noch immer nicht erkannt hat, dass der Sozialismus eine falsche Fiktion war. Man muss wohl alle Register ziehen, um die Wende auch jetzt noch schlecht zu schreiben. Vielleicht hilft dem Autor ja eine kleine Reise nach Nordkorea seinen Realitätssinn aufzubessern. Ach ich vergaß, da kommt man ja genau so schlecht rein, wie früher aus dem real existierenden Sozialismus heraus?