Kolumne Das Schlagloch: Moral der Geschichte

Das Gedenkjahr 2009 verführt zum Glauben an eine historische Zwangsläufigkeit.

Geschafft! Die Mauer ist offen. Das letzte und größte Gedenkdatum des Jahres liegt hinter uns. Das erste war, wie sich jeder erinnert, die Schlacht im Teutoburger Wald. Wir gelangen von dort aus ganz leicht zu Brandenburgs Ministerpräsidenten Matthias Platzeck.

2009. Das Tückische eines so großen Gedenkjahres besteht darin, dass wir uns irgendwann, spätestens an seinem Ende, unmerklich daran gewöhnt haben, die Geschichte als die große Macht der Notwendigkeit zu begreifen. Und wie suggestiv ist dieser Mauerfall. Mit welcher Symbolkraft er das verunsicherte Selbstbewusstsein der westlichen Welt noch einmal bestätigt. Musste nicht alles genauso kommen? Die Mauer fällt, die Demokratie siegt, die Zivilisation schreitet voran.

Im Jahr 9 fielen die Deutschen zum ersten Mal im weltgeschichtlichen Maßstab auf. Ehrlicherweise müssen wir sagen: negativ. Äußerst negativ. Da schlägt ein Barbarenhaufen, der nichts kennt als das ewige Dämmerlicht seiner germanischen Hirne und Wälder, eine Hochzivilisation entzwei. Machen wir uns eigentlich klar, welche Schuld unsere Vorfahren auf sich geladen haben? Wir könnten noch heute alle Latein sprechen. Die EU müsste nicht Unsummen ausgeben, um noch die letzte Beschlussvorlage in einwandfreies Maltesisch, und was der europäischen Hauptsprachen mehr sind, übersetzen zu lassen.

Auch der Einbruch der christlichen Barbarei ins Abendland wäre gewiss nie geschehen. Rom, am Ende übernommen von den Nachfahren einiger zivilisationsfeindlicher Wüstenapokalyptiker, die glaubten, dass nicht alle Menschen durch Nadelöhre passen, höchstens Kamele. Das ist doch, als ob die Taliban die kulturelle Herrschaft über ganz Westeuropa und Amerika gleich dazu übernähmen. Ja, wir hätten möglicherweise schon im Jahr 1000 die industrielle Revolution erlebt, ohne die 1.000 Jahre Stillstand, die der Untergang einer Hochzivilisation bedeutete. Und die Demokratie war auch längst erfunden.

Glück oder Unglück einer Schlacht, und eine weltgeschichtliche Weiche ist gestellt. So dachte sich das auch der Oberbefehlshaber jener Germanenhorde, die im Jahr 1939 die Welt überfiel. Und möge niemand glauben, dass dieser Krieg seine Urheber zwangsläufig vernichten musste, weil sie so böse waren. Hätten die Westmächte nicht bald mit einem gewissen Wohlgefallen zugesehen, wenn Hitler die Sowjetunion einfach ausgelöscht hätte? Über den Mauerfall kann man glatt vergessen: Geschichte ist so unmoralisch, sie belohnt die Guten und die guten Absichten fast nie.

Und nun hat also dieser Matthias Platzeck, der Buh-Mann der Nation im Jubelmonat des Mauerfalls, sein rot-rotes Bündnis in Brandenburg ausgerechnet mit einer Parallele zum Umgang der frühen Bundesrepublik mit der SS gerechtfertigt: "Bereits im Oktober 1951 - nur sechs Jahre nach dem Krieg! - empfing der SPD-Vorsitzende zwei frühere hohe Offiziere der Waffen-SS zu einem Gespräch." Kurt Schumacher habe von einer "menschlichen und staatsbürgerlichen Notwendigkeit" gesprochen, "der großen Masse der früheren Angehörigen der Waffen-SS den Weg zu Lebensaussicht und Staatsbürgertum freizumachen".

Ich gebe zu, einen Augenblick schockiert gewesen zu sein, war mir nur nicht ganz sicher, wovon. Ja, selbst wenn Schumacher recht gehabt haben sollte, hieß "Lebensaussicht" doch nicht: Waffen-SS an die Macht! Andererseits: Müssen die Kerstin Kaisers diese Parallele wirklich hinnehmen? Kommilitonen bespitzelt zu haben ist widerwärtig, aber kein Massenmord.

Die alte Bundesrepublik hat nie verstanden, was sie den Kommunisten zu verdanken hat. Zum Agrarland hatten Roosevelt und sein Minister Morgenthau das Nachkriegsdeutschland machen wollen. Churchill wäre das vermutlich gerade milde genug gewesen. Stattdessen bekam es den Marshallplan. Und statt auf Jahrzehnte und länger eine geächtete Nation zu sein, wurde es zum Verbündeten - nur weil der Westen dieses Teildeutschland in seinem Kampf gegen den Kommunismus brauchte. Auf ein paar Nazis mehr oder weniger kam es da nicht an.

Insofern hatte die Versicherung der Tugendwächter, die Fehler von einst nicht wiederholen zu wollen, schon immer etwas seltsam Janusgesichtiges. Wir könnten viel darüber wissen, wie die Geschichte alle Grundsätzlichkeiten relativiert, es müsste uns bescheiden machen, aber wollen wir das sein? Der "schonende Umgang" mit den Tätern damals hätte zum Vertuschen geführt, mahnt streng der Historiker Heinrich August Winkler. Allerorten werden Anti-Platzeck-Petitionen unterzeichnet. Aber, liebe Mitbürger, möchte man rufen, habt ihr es denn noch immer nicht gemerkt? Wir sind längst ein Volk von begnadeten Aufarbeitern geworden, nur zum Versöhnenden haben wir kein Talent.

In den Talkshows zum Mauerfall fanden die üblichen verbalen Gladiatorenkämpfe statt, an deren Ende man regelmäßig dümmer ist als zuvor. Dabei wäre dieser Montag eine große Gelegenheit gewesen: Drei Kommunisten haben die Mauer geöffnet. Wann wäre ein Regime je so abgetreten? Natürlich war die DDR am Ende, aber dieses Wissen macht Diktaturen gewöhnlich nicht sanfter.

Diesem Land fehlt ein gewisser Stil im Umgang mit sich selbst. Allein aus dem Umstand, dass die Kerstin Kaisers des Ostens sich noch immer zur Linken zählen, folgert man, sie hätten nichts bereut, nichts dazugelernt, nichts über sich selbst erfahren. Aber dieser Schluss fällt auf die geistige Genügsamkeit der Urteilenden selbst zurück, die nie über die Gleichung "Kommunisten sind Verbrecher" hinausdenken wollten.

Das Wort von der "Neuerfindung des Selbst" hat einen guten Klang in unseren Ohren. Zeitgemäß lebt, wer sich ständig neu erfindet. Und doch ist in dieser Formel das Selbst bereits untergegangen. Sie diskreditiert die Erfahrungen, die das Selbst erst bilden.

Es gibt nichts Gespenstischeres als Menschen, die sich immer neu erfinden, die möglichst unverbunden leben mit sich selbst. Dass viele im Osten nicht einfach über die Erfahrungen hinweggehen wollten, die sie geprägt haben (ob sie dann Linke blieben oder nicht), ist gar kein schlechtes Zeichen. Und dass nicht alle Parteimenschen wie Platzeck bloße Parteigeister sind - das schließlich auch.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.