Beate Klarsfeld über Demjanjuk: „Die deutsche Justiz hat Angst“
Beate Klarsfeld über den Demjanjuk-Prozess, Verantwortung, die Kiesinger-Ohrfeige und ihre glückliche Familie.
taz: Frau Klarsfeld, seit gestern steht der mutmaßliche NS-Verbrecher Iwan Demjanjuk vor Gericht in München. Sie sind mit Ihrem Ehemann von Paris angereist, um die ersten Tage zu verfolgen. Was halten Sie von diesem Prozess?
Beate Klarsfeld: Es wird wohl der letzte Prozess gegen einen NS-Verbrecher sein und der wird schwierig. Denn es gibt keine lebenden Augenzeugen mehr, die Verhandlungen müssen wegen Demjanjuks Gesundheitszustand vielleicht unterbrochen werden. Und man darf nicht vergessen, dass er kein Exzesstäter, sondern ein Wächter war. Ihm einen einzelnen Mord nachweisen zu können, ist nahezu unmöglich. Aber durch diesen Prozess werden die Leiden der Juden noch mal öffentlich, die Opfer bekommen ein Gesicht. Ob Demjanjuk ins Gefängnis kommt oder wie hoch die Strafe sein wird, ist dabei fast schon nebensächlich. Wenn er freigelassen wird, dann ist das eine Blamage für die deutsche Justiz.
In Deutschland gibt es die Diskussion, ob ein 89-Jähriger wie Demjanjuk noch vor Gericht gehört. Eine Debatte, die Sie nachvollziehen können?
Ihr Leben: Die Tochter eines Wehrmachtssoldaten wurde am 13. Februar 1939 in Berlin als Beate Auguste Künzel geboren. 1960 ging sie als Au-pair-Mädchen nach Paris und lernte in der Metro ihren zukünftigen Mann Serge Klarsfeld kennen, dessen Vater nach Auschwitz deportiert und dort vergast worden war. Sie haben zwei Kinder, Arno (*1965) und Lida (*1973).
Ihre Arbeit: 1963 fand Beate Klarsfeld beim damals eben gegründeten Deutsch-Französischen Jugendwerk eine Stelle. Die junge Deutsche fühlte sich für die Vergangenheit ihres Heimatlandes "verantwortlich, aber nicht schuldig". Aus diesem Verantwortungsgefühl heraus begann sie Anfang 1967 ihren Feldzug gegen das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Kiesinger, der soeben Kanzler geworden war und bald zur Bundestagswahl antrat: Sie publizierte "Die beiden Gesichter Deutschlands" und zwei weitere Artikel in der Zeitung Combat. Die Bundesregierung reagierte postwendend: Die junge Mutter wurde entlassen. Am 7. November 1968 ohrfeigte Klarsfeld Kiesinger auf einem CDU-Parteitag. Noch am selben Abend wurde sie im beschleunigtem Verfahren zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ihrem Anwalt, dem heutigen Rechtsextremisten Horst Mahler, gelang es, ihre Gefängnisstrafe zu vier Monaten auf Bewährung umzuwandeln. Zusammen mit ihrem Mann Serge kämpft sie unermüdlich für die Bestrafung von NS-Verbrechern. Es ist vor allem dem Ehepaar Klarsfeld zu verdanken, dass gegen einige Hauptverantwortliche des NS-Polizeiapparates Prozesse geführt wurden, so gegen Kurt Lischka und Klaus Barbie. 1979 gründete Beate Klarsfeld die Organisation "Fils et Filles des Déportés Juifs de France", in der die Kinder und Enkel von Holocaust-Opfern organisiert sind.
Ihre Würdigung: Beate Klarsfeld wurde in vielen Ländern für ihre Arbeit ausgezeichnet. Die Franzosen ernannten sie zum "Ritter der Ehrenlegion" und zum "Offizier der Ehrenlegion"; in Israel erhielt sie die "Tapferkeitsmedaille der Ghettokämpfer", auch für den Nobelpreis wurde sie vorgeschlagen.
Nein, natürlich muss ihm der Prozess gemacht werden. Es ist wichtig für die Geschichte und für die Jugend zu wissen, dass diese Männer auch im hohen Alter noch belangt werden können – und es ist die Schuld der Deutschen, dass sie so lange gewartet haben, bis sie nur noch Rentner, die bettlägerig und senil sind, vor Gericht zerren konnten. Die Verbrecher dürfen bis zum letzten Augenblick ihres Lebens nicht ruhig schlafen können, sie müssen jeden Tag Angst haben. Simon Wiesenthal nannte das mal „Last Chance“. Man vergisst die Verbrechen dieser Menschen nicht.
Sie haben bereits 1992 gegen Demjanjuk eine Strafanzeige in Frankreich gestellt, wegen der Transporte, die von Frankreich nach Sobibor gingen. In Deutschland sind Sie nun als Nebenklägerin nicht zugelassen worden. Warum?
Wir haben mit unserer Organisation Fils et Filles des Déportés Juifs de France einen Antrag für eine Nebenklage gestellt, und zwar für den Transport Nummer 53, der mit 1.008 Personen, darunter auch Kinder, von Paris nach Sobibor fuhr und dort während der Dienstzeit Demjanjuks, am 5. März 1943 ankam. Für diesen Transport haben wir auch Augenzeugenberichte von zwei Überlebenden, die sich während der Revolte retten konnten und nach dem Krieg aussagten. Wir sind in Deutschland aber nur auf Widerstand gestoßen, die deutsche Justiz hat Angst.
Mit welcher Begründung wurde der Antrag abgelehnt?
Letzten Donnerstag erreichte uns die endgültige Absage vom bayerischem Justizministerium. Die Staatsanwaltschaft ist der Ansicht, dass das Verfahren nicht durch Klärung zusätzlicher Fragen verzögert werden sollte. Der Prozess stelle für das Gericht und alle Beteiligten ohnehin schon eine große Herausforderung dar. Deswegen habe man habe sich auf die Transporte aus den Niederlanden konzentriert, heißt es aus dem Justizministerium. Dabei hätte es noch mal deutlich gemacht, dass Juden aus ganz Europa in Sobibor ankamen, dennoch werden die aus Frankreich deportierten Juden in München nicht vertreten sein. Dabei haben natürlich auch die französischen Juden ein Anrecht darauf, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt.
Für die deutsche Justiz wird das Verfahren eine Premiere: Zum ersten Mal wird ein ausländischer Scherge aus dem letzten Glied der Befehlskette belangt, weil er mithalf, die Mordmaschinerie am Laufen zu halten. Warum erst so spät?
Die Deutschen hatten ja seit Kriegsende die NS-Verbrecher vor der eigenen Tür, die tausendmal verantwortlicher waren als Demjanjuk. Der war ein russischer Kriegsgefangener, welcher von den Deutschen übernommen wurde. Die großen Nazis saßen ja in allen Posten und haben die Politik mitgestaltet. Kurt Kiesinger mit seiner NS-Vergangenheit hatte die Deutschen rehabilitiert. Mit ihm als Bundeskanzler musste sich der kleine Nazi keine Selbstvorwürfe mehr machen.
Sie haben bei Ihrer Suche oftmals feststellen müssen, wie simpel es war, jemanden aufzuspüren, auch wenn Staatsanwälte das Gegenteil behaupteten. Kurt Lischka etwa haben Sie im Kölner Telefonbuch gefunden. War die deutsche Justiz auf dem rechten Auge blind?
Es kümmerte keinen, und es gab im Volk keine Sympathien für diese Prozesse. In der Politik wollte niemand an dieses Thema ran – vor allem nicht die CDU und die FDP. Gerne wurde auch die Ausrede benutzt, man könne ja kaum noch etwas beweisen.
Sie werden oft als „Nazi-Jägerin“ bezeichnet. Wie sehen Sie sich selbst?
Ein Jäger benutzt Waffen, das haben wir niemals gemacht. Wir haben Nazis zwar gejagt, aber diese Jagd bestand im Aufdecken und Bekanntmachen, damit die Täter von der Justiz zur Verantwortung gezogen werden.
Die Zeit nannte Sie einst „Racheengel wider die deutsche Geschichtsgleichgültigkeit“.
Es ging mir nie um Rache. Ich bin Deutsche und Nichtjüdin, damit habe ich eine moralische Verpflichtung. Ich hatte einfach immer das Gefühl, Gerechtigkeit schaffen zu müssen. Etwas zu tun für diejenigen, die ihre Eltern und Kinder verloren haben. Ich wollte nicht, dass die NS-Mörder als Bürgermeister oder Politiker unbehelligt weiter in Deutschland leben. Man kann nicht immer nur sagen: Ich bedaure oder ich fühle mich schuldig. Man muss auch handeln. Sophie Scholl war immer ein Vorbild für mich.
Sühne, Vergeltung, Bestrafung – sind dies die Leitbegriffe des Ehepaars Klarsfeld?
Es geht um Bestrafung.
Die Täter sterben aus. Wie hält man die Erinnerung wach?
Es gibt zahlreiche Museen und Gedenkstätten, die vor allem für die Jugend immer wichtiger werden. Auch unser Verein beschäftigt sich mit der Erinnerung an die Opfer. Weil aber auch die Überlebenden bald aussterben werden, ist es wichtig, Dokumentationen zusammenzustellen. Die Erinnerung an den Holocaust ist nie erledigt.
Sie haben 2008 in einem Interview gesagt „Ich bin stolz, Deutsche zu sein“. Warum?
Auf jeden Fall. Was kann man mehr tun, als den Ruf seines Volkes zu verbessern?
Die Namen Beate und Serge Klarsfeld stehen in Frankreich in jedem Lexikon. Sie sind schon in vielen Ländern für Ihre Arbeit ausgezeichnet worden – nur nicht in Ihrer Heimat. Zuletzt hat Gregor Gysi angekündigt, dass die Linke Sie für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen will.
Bisher kam nichts, nichts, nichts. Sie kennen doch das Sprichwort von dem Propheten im eigenen Lande. In Deutschland wird mir immer noch die Ohrfeige vorgehalten, die ich Kiesinger verpasst habe. Viele haben mir das nicht verziehen, ich galt als Nestbeschmutzerin. Die Ohrfeige war eine symbolische Aktion: Die Kinder der Nazis geben den Nazivätern eine Ohrfeige. Ich warte immer noch auf eine Geste Deutschlands und hoffe, dass man mich nicht vergisst – denn ich habe viel für Deutschland getan.
Sind Sie zufrieden mit Ihrem Lebenswerk?
Sehr sogar. 1960 ging ich aus Berlin fort, ohne Abitur oder sonst was Besonderes. Man kommt nach Paris, wird Au-pair-Mädchen und trifft einen jungen Mann, dessen Vater deportiert wurde. Und dann haben wir zusammen all das aufgebaut. Ich bin immer noch mit demselben Mann glücklich verheiratet. Wir haben zwei Kinder großgezogen, unser Sohn Arno engagiert sich besonders für Israel, wir sind von unseren Hunden und Katzen umgeben. Ich bin kürzlich Großmutter geworden und bald kommt unser nächstes Enkelkind. Wir sind eine sehr glückliche Familie.
Zuletzt eine Frage, Frau Klarsfeld, die man Ihnen einfach stellen muss: Als Sie Bundeskanzler Kurt Kiesinger 1968 öffentlich geohrfeigt haben, warum haben Sie ihn eigentlich auf sein Auge geschlagen?
Ich wollte seine Wange treffen, musste aber schnell handeln. Dass ich dann sein Auge getroffen habe, war nicht geplant. Er hatte dann ein braunes Auge, das passte ja dann irgendwie.
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