Skispringen: Magere Burschen in großen Anzügen
Wieder mal experimentieren die besten Hüpfer mit illegalem Textil. Der Schanzensport ist längst hoch technisiert.
Eine Reisenähmaschine führen die Skisprungteams in der Regel nicht mit sich, um sich an tristen Winterabenden mit Schneiderarbeiten die Zeit zu vertreiben. An der Reisenähmaschine versuchen sich Trainer und Betreuer, um die Anzüge der Springer notfalls selbst abändern zu können. Das Reglement ist streng, nur höchstens sechs Zentimeter Abstand darf zwischen Körper und Anzug sein. In den Quartieren der Österreicher und Schweizer dürfte die Nähmaschine am Silvesterabend tüchtig gesurrt haben. Denn sowohl Andreas Kofler, Sieger des Auftakts der Vierschanzentournee in Oberstdorf, als auch der Schweizer Simon Ammann, der Führende in der Weltcupwertung, sind an Silvester bei der Qualifikation zum Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen disqualifiziert worden, weil ihre Anzüge zu weit geschnitten waren. Da herrschte also dringender Änderungsbedarf, denn trotz der Disqualifikation durften sie am Neujahrstag antreten: Dank ihrer Weltcupplatzierung gehören sie zu den Gesetzten und hätten sich den Qualifikationssprung von der Olympiaschanze eigentlich sowieso sparen können.
"Der Anzug war zu weit. Für mich ist das kein Problem, weil ich schon qualifiziert war. Es ist alles sehr am Limit, da kann das passieren", sagte die österreichische Gute-Laune-Maschine Kofler. "Statt Silvester feiern werden wir heute wohl noch ein bisschen nähen." Er wollte den Regelverstoß als Lappalie erscheinen lassen, genau wie Ammann, der verlauten ließ, zu Testzwecken den allzu großen Anzug gewählt zu haben, obwohl dieser noch nicht alle Normkontrollen durchlaufen habe.
Es ist schon auffällig, dass sowohl der Tournee- als auch der Weltcupführende die Materialvorgaben verletzt haben. Es wirkt, als haben sie das Risiko bei der für sie sowieso nur bedingt relevanten Qualifikation bewusst in Kauf genommen, um auch die noch so kleinsten Stellschrauben zu prüfen. Der Schanzensport ist mittlerweile hoch technisiert und sensibel, viele Rädchen greifen ineinander, um die bestmögliche Weite zu erzielen: die Skier, die Bindung, der Sprungschuh, der Anzug - und, ja, auch noch der Mensch. Überall wird nach Lücken im Reglement gesucht, nach dem entscheidenden Quäntchen Vorsprung. Vor einigen Jahren waren große, weitgeschnittene Anzüge der letzte Schrei auf der Schanze. Natürlich nicht aus modischen Überlegungen heraus, sondern weil man glaubte, der aerodynamische Auftrieb werde umso größer, je weiter der Anzug geschnitten ist. Erst reduzierte die Fis den Abstand zwischen Körper und Anzug auf acht Zentimeter, dann um weitere zwei Zentimeter. Das Fis-Regelwerk zu den Anzügen ist inzwischen penibel formuliert, Kragen-, Schritt- und Ärmellängen müssen von den Materialkontrolleuren genau erfasst werden. Damit nicht geschummelt werden kann, werden geprüfte Anzüge plombiert.
Zudem steckten in den großen Anzügen recht magere Burschen, weil man glaubte, Leichtgewichte fliegen weiter. Man glaubt das, wie in Janne Ahonens Biografie nachzulesen ist, wohl immer noch, auch wenn es mittlerweile den Body-Mass-Index (BMI) gibt, der zu leichte Skispringer mit dem Zwang zu kürzeren Skiern bestrafen will. Viele, so raunt man in der Szene, nehmen allerdings kürzere Skier in Kauf, weil sie glauben, ein niedriges Körpergewicht habe mehr Einfluss auf die Weite als die Skilänge.
Immer wieder werden auch Gerüchte über neue Wundermaterialien gestreut, wobei man nie so ganz genau weiß, ob das jeweilige Team, das die Gerüchte streut, wirklich eine Innovation aufgetan hat oder nur die gegnerischen Mannschaften verunsichern will. Definitiv hat ein neuer Anzug noch keinen Springer in neue Dimensionen getragen. Ganz so wie bei den Schwimmern, wo neue Anzüge bei der WM in Rom eine wahre Rekordflut ausgelöst haben, ist es an den Schanzen noch lange nicht.
Der österreichische Boulevard schwärmt dennoch zuweilen gerne über die Wunderkleidung seiner Helden. Auch ein Schweizer Blatt philosophierte zu Beginn der Tournee des Vorwinters darüber, dass Ammann nun einen "Wunderanzug" made in Switzerland habe, was ihm zum großen Vorteil gereiche. Gewinnen konnte er die Tournee seinerzeit bekanntlich nicht.
Der Griff zum zu weiten Anzug in Garmisch-Partenkirchen war vermutlich ein taktisches Geplänkel zweier findiger Athleten, die gerne Grenzen ausloten und wissen, dass sie auch im regulären Outfit weiter springen als die meisten ihrer Konkurrenten. Aber die Reisenähmaschine hat ihre Dienste in der Nacht getan, am Neujahrstag war alles korrekt genäht.
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