die wahrheit: Bekunde den Bekunder!

Die seltsamen Erlebnisse eines Zuhausewohners

Der Wikinger ist der kräftigste, zugleich aber auch der wandlungsfähigste der drei neuen Mitbewohner. Bild: reuters

1. Tag: Als ich erwache, sitzen ein Zwerg, ein Rabe und ein Wikinger neben meinem Bett. Der Zwerg grüßt freundlich, der Rabe liest eifrig in meinen Büchern und der Wikinger sagt: "Die Erde ist eine Scheibe, von der man sich beizeiten ein ordentliches Stück abschneiden sollte." Wir müssen nicht Freunde werden, denke ich. Es reicht, wenn wir uns mit Respekt, Anstand und Höflichkeit begegnen und lernen, Rücksicht aufeinander zu nehmen.

4. Tag: Langsam lerne ich meine neuen Mitbewohner kennen: Der Zwerg sitzt meist nur herum und lächelt. Als ich ihn frage, ob er wisse, wo mein Taschentuch sei, antwortet er lediglich: "Tiefseetauchen und Flachbildschirme. Die Welt ist voller dehnbarer Begriffe. Wer sehnt sich da nach Reduktion?" Dann streckt er sich etwas, ohne dass er an Größe gewinnt. Der Rabe ist anders. Er sagt dauernd Dinge wie: "Benagtes Kantenkind: Bekunde den Bekunder." Ich weiß nicht, warum er sprechen gelernt hat, wenn ihn sowieso keiner versteht.

5. Tag: Nach dem Frühstück kommt der Wikinger auf mich zugestürmt und ruft: "Du hast meine Katze gegessen." Als ich nicht sofort antworte, fügt er vorwurfsvoll hinzu: "Sie war wie eine Mutter zu mir." Seitdem ist unser Verhältnis etwas belastet.

6. Tag: Der Zwerg hilft mir einen Moment leise zu sein.

9. Tag: Abends überrascht mich der Wikinger mit dem Bekenntnis "Ich möchte gern ein Russe sein." Später nennt er mich Väterchen Fritz, ohne dass mir letztlich klar wird, warum. Außerdem weiß ich nicht mehr, was das Wort "Petroleumofen" bedeutet. Nachts Traum vom Raben, der die Verbindung von Auskünften mit Informationen deklamiert und fordert, dabei keinen Blick von der Straße zu wenden. Der Wikinger erscheint mit einem Schild, auf dem "Fehlzeiten" steht. "Der Satz ist blau gefüllt", sagt der Zwerg. "Das mag weltbewegend sein. Mich bewegt es nicht", erwidert da der Rabe erstaunlich klar.

10. Tag: Morgens erscheint der Wikinger in einem Kosakenkostüm. Er ist mit einer Pelzmütze bekleidet, die mich in Form und Farbe sehr an seine Katze erinnert, und versucht dabei, eine große Flasche Wodka als Frühstück zu sich zu nehmen. Nachdem er einige kräftige Schlucke zu sich genommen hat, hält er einen Moment inne. Dann muss er sich übergeben. Wenig später finde ich einen Zettel, auf den der Zwerg geschrieben hat: "Es ist nicht leicht, ohne Gewicht zu sein." Suche den Zwerg den Rest des Tages, kann ihn aber nicht wiederfinden.

15. Tag: Verspüre ein leichtes Kratzen im Hals, das sich im Laufe des Tages ausweitet, so dass ich kaum mehr sprechen kann. Treffe im Flur den Raben, der mir von weitem zuruft: "Besingen Sie die Unzulänglichkeit der Menschheit in ausgelassenen Worten! Begrübeln Sie Ihre einsame Einheit! Beschreien Sie die Unmöglichkeit der Unmöglichkeit! Rhabarbern Sie Brei, und kommen Sie zu keiner Ente! Vermeiden Sie eigenen Maidung! Bleiben Sie gefönt!" Es bleibt das Gefühl, dass wir nicht die gleiche Sprache sprechen.

18. Tag: Unter alten, unbrauchbaren Geräten entdecke ich mein Frühstücksbrettchen, in das der Wikinger das Wort "Fritz" geritzt hat. "Auch das Willkürliche muss motiviert sein", denke ich selbstvergessen, während ich mir mit einer Gabel Erdbeermarmelade unter die Achseln streiche.

21. Tag: Der Rabe hat alle meine Zimmer verschlossen. Als ich versuche, gewaltsam in mein Arbeitszimmer zu dringen, drängt mich der Wikinger mit aller Macht beiseite. In einer Ecke der Küche veranstalte ich nachher einen Attribute-Abend. Es gewinnt der Satz: "Die abgrundtiefe Verzweiflung unerwiderter Liebe schneidet schmerzhafte Wunden in mein heftig schlagendes Herz: Wer immer mich hört, er stellt sich taub. Und blind. Und stumm."

22. Tag: Ich sitze unerkannt neben einer weißen Wand. "Auf einen kleinen Haufen kann man auch zweimal scheißen", denke ich. Das Dritte habe ich völlig vergessen.

23. Tag: Rabe und Wikinger kommen auf mich zu und werfen mich mit den Worten "Diese Tür steht dir offen" aus dem Haus. Als ich in der Pfütze in der Mitte des Hofes liege, erinnere ich mich kurz an den Satz des Zwergs: "Man muss aufpassen, dass man sich in der Fülle der Weite nicht verliert."

26. Tag: Ich weiß nicht, wohin ich gehöre. Solange ich es nicht weiß, bleibe ich, wohin ich nicht gehöre.

27. Tag: Seitdem ich draußen wohne, habe ich mich der Verantwortung eines Erdlochs übergeben. Von der Ferne höre ich aus der Küche Stimmen, die singen: "Zu Hause ists, wo keiner hinkommt." Später wird es dunkel und kalt. Kein Rauch weht mehr aus dem Schornstein, das Licht in der Küche ist erloschen. Meine Handtasche schweigt dazu.

JAN ULLRICH

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