Waisen nach Beben in Haiti: "Kinder werden weggeschubst"
Zehntausende Kinder sind durch das Erdbeben in Haiti elternlos geworden, befürchten die Koordinatoren der Kindernothilfe. Sie fordern ein Programm für Waisenkinder und junge Obdachlose.
taz: Sind Projekte, die die Kindernothilfe betreut hat, von der Erdbebenkatastrophe betroffen?
Ruben Wedel: Ja. In Rivière Froide haben wir in einer Schule Kinder betreut. Die Schule ist völlig zerstört. Von den 350 Schülerinnen und Schülern konnten nur 29 aus den Trümmern lebendig befreit werden. 137 tote Kinder wurden bisher geborgen. Auch Suchhunde haben keine Überlebenden mehr gefunden. Für die Vermissten gibt es kaum eine Chance.
Ruben Wedel ist der Notfallkoordinator und Alinx Jean-Baptiste ist der haitianische Leiter der deutschen Kindernothilfe (KNH). Weitere Informationen und Spendenkonto: www.kindernothilfe.de
Gibt es viele verletzte Kinder?
Alinx Jean-Baptiste: Ja, die Krankenhäuser sind voll. Es gibt kaum Verbandszeug, Alkohol oder medizinische Geräte zur Erstversorgung, aber es mangelt auch an Kinderärzten und an Behandlungsmöglichkeiten, die auf Kinder ausgerichtet sind.
Haben Sie eine Schätzung, wie viele Kinder Waisen beziehungsweise Halbwaisen wurden?
Jean-Baptiste: Wir befürchten, dass 50.000 bis 100.000 Kinder elternlos geworden sind, noch mehr haben Elternteile verloren. Die Mehrzahl von ihnen ist traumatisiert. Sie brauchen psychologische Betreuung. Dazu kommt, dass Wasser, Lebensmittel und vor allem Milchpulver fehlen. Besonders die Kinder sind von der schwierigen Versorgungslage betroffen. In einer Woche wird die Ernährungssituation vor allem für Kinder schwierig. Wir brauchen dringend ein spezielles Programm, das sich an die Kinder richtet, die obdachlos oder zu Waisen wurden.
Denken Sie dabei an Zusatzrationen für Ihre Kinder?
Jean-Baptiste: Wir brauchen spezielle Verteil- und Versorgungsaktionen, die sich konkret an Kinder richten. Die Schwächeren sind oft die Verlierer bei solchen Verteilaktionen - und das sind Kinder. Sie werden weggeschubst und die Stärkeren setzen sich durch. Wir benötigen eine besondere Strategie, damit die spezielle Hilfe, die die Kinder brauchen, ihnen zugutekommt. Wenn wir noch zwei Wochen warten, dann wird es Unruhen geben. Es ist zu befürchten, dass Kinder sterben werden, wenn es keine Hilfslieferungen für sie gibt.
Was plant die Kindernothilfe konkret?
Wedel: Wir werden in einer Armengegend von Port-au-Prince auf dem Gelände der Schule der Heilsarmee ein Kinderzeltlager errichten, in dem Drei- bis Sechsjährige behandelt und betreut werden können. Es geht uns um vier Aspekte: einmal um den Schutz der Kinder, dann um deren Essensversorgung, um ihre gesundheitliche Situation und zum Vierten um die psychosoziale Betreuung.
Um welche Kinder handelt es sich?
Jean-Baptiste: Die Mehrzahl gehört zu der Gruppe, die wir schon betreuen und deren Schulbesuch wir finanzieren. Neben den körperlichen Verletzungen der Kinder gibt es viele seelische Probleme. 13 Betreuer werden sich in den nächsten Wochen um diese Kinder kümmern. Aber vor allem wird ein Schwerpunkt auf der psychosozialen Betreuung liegen.
Wie viel Kinder werden Sie betreuen?
Wedel: Unsere Ressourcen reichen nicht aus für alle Kinder. Deshalb spezialisieren wir uns am Anfang auf die bis zu Sechsjährigen. Wenn wir mehr finanzielle Möglichkeiten haben, werden wir dieses Programm auch auf die Kinder in den Obdachlosenlagern in der Umgebung ausweiten.
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