Neues Hot Chip Album: Sex, Nerds und Abenteuer
Die Facebook-Popper Hot Chip veröffentlichen mit "One Life Stand" einen neuen Longplayer. Klassische Popthemen werden routiniert verhandelt, die Leidenschaft bleibt jedoch auf der Strecke.
Dass ausgerechnet die Nullerjahre - im schlüpfrigen Großbritannien "noughties" genannt - das Jahrzehnt waren, in dem die Digitalisierung der Medien und Kommunikationsvorgänge ihren weltweiten Durchbruch hatte, hätte sich kein Science-Fiction-Autor besser ausdenken können. "Nullerjahre", was für ein leerer, demütigender Dekadenname! Aber klar: Nullen und Einsen, darum geht es schließlich in der elektronischen Datenverarbeitung.
Wenn es eine Band gab, in deren Klang- und Bildsprache man all das hineininterpretieren konnte, was einem via MySpace, Facebook und Twitter am Computerbildschirm und darüber hinaus so widerfuhr, dann sicherlich die Londoner Band Hot Chip, die sich im Jahr 2000 gründete.
Gentrification-Dschungel
Allein der Bandname, den man ins kantig-sachliche Deutsch vielleicht mit "heißer integrierter Schaltkreis" übersetzen kann, lässt gedanklichen Spielraum zwischen der alltäglichen Beziehung zum Computer, der sozialen Netzwerke und dem nächtlichen metrosexuellen Treiben im gentrifizierten Hot Spot des urbanen Dschungels der Liebe.
Hot Chip gehören zu jener Musikergeneration, die sich mit dem Schallplattenladenerbe der Disco- und Popmusik und mit der Download-Energie neuer, elektronischer Tracks beschäftigt.
Die Bandmitglieder schauen dabei auf den ersten Blick aus wie freundliche Mitarbeiter aus dem Computerlötladen von nebenan. Wobei der Sexappeal von Hot Chip ungefähr dem von Informatiknachhilfelehrern entspricht. Doch schon beim zweiten Blick bemerkt man die Markenturnschuhe, die Superfit-Jeans und Designershirts und begreift, dass es sich bei diesem Nerdlook eben doch um eine modische Masche handelt - und keinesfalls um ein Versehen.
Dass die auch von Hot Chip zur Schau getragenen Brillen - gerne auch überdimensioniert - gegen Ende der Nullerjahre ein modisches Comeback erfahren haben, passt natürlich wie die Faust aufs Auge einer Generation, die den ganzen Tag nur noch auf Bildschirme glotzt.
Popstars der Generation Remix
"One Life Stand" lautet nun der Titel des vierten Hot-Chip-Albums. Das sexuelle Abenteuer für das ganze Leben also - oder wie auch immer man den wortwitzigen Titel interpretieren darf. Hauptsänger Alexis Taylor und Sidekick Joe Goddard, der erst im November ein Soloalbum mit dem Titel "Harvest Festival" veröffentlicht hatte, klingen mal wieder wie ein Software-Update des britischen Synthiepopduos Erasure oder eines der vielen Projekte der britischen Schwulen- und Soulikone Jimmy Somerville.
Auch entdeckt man immer wieder starke Parallelen zum musikalischen Treiben des Wahlberliners Erlend Øye und seinen verschiedenen Projekten, allen voran natürlich The Whitest Boy Alive. Hot Chip tönen also auch wie weißer, urbaner, metrosexueller Mittelstandssoul - der zu tief ins Latte-Macchiato-Glas geschaut hat.
In Interviews sprechen die Briten hauptsächlich über ihre Faszination für alte Techno-, House- und Discomaxis. Stundenlang hängen sie in Plattenläden herum, sagen sie. Davon kann man der iTunes-Generation natürlich wahrlich lustige Abenteuer erzählen. Beim letzten Hot-Chip-Album "Made In The Dark" sprachen Kritiker noch von einer "Band neuen Typs" - was natürlich eine hypebedingte Übertreibung ist.
Natürlich sind Hot Chip seit geraumer Zeit ein über Szenekreise hinaus angesagter Act. Sie werden von der Musikindustrie als Produzenten oder Remixer für ihre Popstars eingekauft und im Gegenzug auch von namhaften Leuten aus anderen Clubsegmenten geremixed. Jeder Hot-Chip-Song klingt dabei selbst wie ein Remix des eigenen Songmaterials. Sie sind also - wenn man so will - Popstars der Generation Remix. Auch auf "One Life Stand" fliegen einem ständig irgendwelche Samples um die Ohren und man weiß nie genau: Was ist hier live gespielt, was ist editiert, was ist Zitat, was ist aus Versehen geklaut und was ist hier bewusste Reverenzerweisung.
Die Endresultate, die man auf "One Life Stand" zu hören bekommt, klingen - die Erasure- und Jimmy-Somerville-Reverenzen mal in den Papierkorb geschoben - mit ihren Anleihen aus Indiepop, Disco, House, Krautrock, Funk, Blue Eyed Soul, Kompakt-Knickknack, Stock-Aitken-&-Waterman-Plastikpop und analogen Disco-Synthesizer-Sequenzen im Sinne Giorgio Moroders natürlich überhaupt nie nach etwas Neuem - sondern immer nur nach interessanten Klangkombinationen. Darum ging es in der Club- und Popmusik schließlich schon immer: weglassen, addieren, multiplizieren und ausprobieren!
Blur oder Oasis?
Tatsächlich muss man sagen, dass britische Bands - was die Addition von Elektronik- und Indiepopmusik im Bandkontext angeht - in den letzten Jahren nicht unbedingt als Pioniere zu bezeichnen sind. Selbst in der Popdiaspora Deutschland haben Musiker - wie etwa aus dem Weilheimer Umfeld von The Notwist - bereits in den Neunzigerjahren an einer ähnlichen Produktionsweise gearbeitet. Aber es sind halt Hot Chip, die in den Noughties als progressives Phänomen durch das Feuilleton gereicht werden, während es vor zehn Jahren in England nur eine einzige Frage zu klären galt: Blur oder Oasis?
Aber da es in der Popkultur vor allem um vorhandene und utopische soziale Systeme und die damit verbundenen Gefühlswelten geht, kann einem dieses Innovationsgeschwätz getrost total schnuppe sein - Hauptsache, die Songs einer Band berühren einfach nur irgendwie! Doch das tun Hot Chip auf "One Life Stand" bestenfalls bedingt.
Es bereitet einem zwar schon Vergnügen, wenn im Auftaktsong "Thieves Of The Night" aus einem Orgelvorspiel eine pumpende Bassdrum erwächst, aus der sich wiederum ein Discotrack schält, der harmonisch an den Visage-Ohrwurm "Fade To Grey" erinnert. Auf dem Höhepunkt des Stücks geben Hot Chip dann den Pop-Kalenderspruch "Happiness is all we want" zum Besten. Schön!
Einfach schön auch, wie sie in "Hold Me Down" ein Housepiano zum Mersey-Beat spielen, zu dem wie von Heliumgas beschleunigte Discohouse-Vocals erklingen, bis hin zu gewagten Balladen, die stimmlich an die Fragilität von großen Nichtsängern wie John Cale oder Robert Wyatt erinnern. Das Titelstück hat mit seinen überlagerten Synthesizerstimmen und dem Electrorock-Einschlag sowieso das Potenzial, zur Hauptverkehrszeit jede Tanzfläche zu füllen!
Nichts bleibt für die Ewigkeit
Aber: Es sind eben immer wieder große Songs, die sich über Stilfragen erheben und die himmlischen Popmomente auf Erden schaffen. Und Songs für die Ewigkeit haben Hot Chip auf "One Life Stand" leider diesmal nicht abgespeichert. Wer sich heutzutage über Facebook und Co. im Club verabredet, sucht womöglich auch gar nicht nach der Ewigkeit. Im Club geht es doch immer darum, das Hier und Jetzt - die in der Virtualität angedeuteten Möglichkeiten von Realität vollends auszukosten.
Wer also ist schon wirklich auf der Suche nach einem "One Life Stand"? Es geht doch in erster Linie erst mal um einen "One Night Stand" - und dann sieht man weiter. Für diesen Zweck gibt es auf dem Album eine Handvoll sichere Nummern. Vom Scheitern singen dann andere. Von großer Liebe auch.
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