Abhör-Handbuch: Microsoft lässt Server sperren
Die Seite "Cryptome" veröffentlicht seit Jahren geheime Dokumente von Regierungen. Nun sorgte ausgerechnet Microsoft für die Abschaltung – mit fadenscheinigen Argumenten.
BERLIN taz | Lange bevor "Wikileaks" im vergangene Jahr als große Whistleblower-Seite im Netz bekannt wurde, existierte schon "Cryptome": Bereits seit 1996 sammelt der US-Architekt John Young auf seinem Server Dokumente und Informationen, die Regierungen, Geheimdienste, öffentliche und nichtöffentliche Organisationen und Konzerne am liebsten nicht ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt sehen würden.
So gab es auf der Seite Hintergründe zum Netzspeicherprogramm "Carnivore" des FBI ebenso zu sehen wie unterdrückte Fotos getöteter Soldaten aus dem Irak. 40.000 Dokumente und Bilder lagern auf Cryptome regelmäßig. "Wir heißen alles willkommen, was sich um Redefreiheit, Privatsphäre, Kryptographie, Technologien mit mehreren Verwendungszwecken, nationale Sicherheit, Geheimdienste oder das Regieren im Verborgenen dreht."
Bislang konnte sich Cryptome, das von US-Medien bereits als "Terroristenhelfer" verunglimpft wurde, noch gegen jeden Angriff wehren. 2007 kündigte der damalige Provider zwar den Server-Vertrag, weil es angeblich zu "Verletzungen der Geschäftsbedingungen" gekommen sei, ließ jedoch noch das Ausweichen auf einen anderen Anbieter zu. Am Mittwoch nun ging Cryptome erstmals wirklich vom Netz. Schuld waren diesmal nicht etwa Geheimdienste oder Regierungen, sondern ausgerechnet der Software-Konzern Microsoft.
Young hatte dessen "Global Criminal Compliance Handbook" veröffentlicht, in dem das Unternehmen Strafverfolgern klipp und klar erläutert, welche Informationen sie über die Kundschaft erhalten können und welche rechtlichen Rahmenbedingungen sie dabei einhalten müssen – inklusive Vorlagen entsprechender richterlicher Ermächtigungen. Sinn der Sache scheint eine möglichst reibungslose Interaktion mit staatliche legitimierten Schnüfflern zu sein – ähnliche Handbücher existieren laut Insidern auch von diversen anderen großen Internet-Konzernen, die mit einer ständig wachsenden Flut von Abhöranfragen kämpfen.
Die Lektüre des Dokuments dürfte Nutzern von Diensten wie "Hotmail", "Xbox Live" oder "Windows Messenger" Schauer über den Rücken laufen lassen. So speichert Microsoft beispielsweise alle IP-Adressen von Spielern mitsamt der gezockten Titel, kann Buddy-Listen mit Chat-Partnern hervorzaubern und hält E-Mails zum einfachen Strafverfolger-Download bereit, denen man zudem idiotensicher erklärt, wie man Logdateien lesen muss und was ignoriert werden kann.
Nachdem Microsoft von der Existenz des Handbuchs auf Cryptome erfahren hatte, schickte das Unternehmen seine Anwälte los. Die wiederum kontaktierten Youngs Internet-Anbieter Network Solutions (NSI), damit dieser die Infos aus dem Netz nehme. Die fadenscheinige Begründung: Cryptome verletze Urheberrechte des Konzerns. NSI reagierte sofort auf das von Microsoft angestrengte, so genannte "DMCA"-Verfahren, das normalerweise gegen illegale Musik-Uploads oder Filme verwendet wird: Der Provider drehte die Seite vollständig ab, sogar der Domain-Name wurde gesperrt, so dass Young ihn nicht auf einen anderen Anbieter übertragen konnte.
Dem Netzaktivisten blieb nichts anderes übrig, als auf eine andere Seite auszuweichen, auf der er allerdings nur einen Teil der auf dem alten Angebot vorgehaltenen Dokumente veröffentlichen konnte. Das Microsoft-Dokument nahm er zunächst herunter, um bei NSI entsprechende Argumente zu haben, den Server zu entsperren – gleichzeitig legte er Widerspruch ein.
Inzwischen hat sich die Situation etwas entspannt. Nachdem mehrere bekannte US-Medien über den Fall berichteten, gab Microsoft klein bei. Neuerlich per Anwalt ließ der Software-Konzern den "DMCA-Takedown" zurückziehen. Man habe "nicht beabsichtigt", dass die Beschwerde zur Sperrung der gesamten Cryptome-Seite führe. "Deshalb bitten wir Network Solutions, den Internet-Zugriff schnellstmöglich wieder herzustellen."
Young reagierte auf seine ganz eigene Art: Er stellte das Abhör-Handbuch von Microsoft wieder prominent auf seine Seite, veröffentlichte den gesamten E-Mail-Verkehr zwischen Microsoft und Network Solutions und legte auch noch ein paar weitere Dokumente nach, in denen Internet-Konzerne Strafverfolgern erklären, was sie alles so anzubieten haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
Bilanz der Ampel-Regierung
Das war die Ampel
Trumps Wahlsieg und Minderheiten
So wie der Rest
Israelische Fans angegriffen
Gewalt in Amsterdam
Die Grünen nach dem Ampel-Aus
Grün und gerecht?