PANORAMAPLÄTZE: Ganz vorne
Im Doppeldeckerbus ist der schönste Platz oben und vorne. Wenn ich mit dem Bus fahre, eile ich immer dorthin – aber die Panoramaplätze im Fahrzeug sind fast immer besetzt. So auch an jenem Abend zur Tagesschauzeit in Kreuzberg. Ein Abend, der mir wegen einer kleinen, ekelhaften Bemerkung noch länger in Erinnerung bleiben wird.
Beide vorderen Bänke sind von je einem Jugendlichen besetzt, sie fläzen sich quer auf den Sitzen. Dabei hat einer der beiden die Knie angewinkelt und seine Schuhsohlen auf das Polster gestellt. Mich schräg dahinter in die zweite Reihe setzend, spreche ich ihn an: „Entschuldigung, könnten Sie bitte Ihre Füße vom Sitz nehmen?“ „Warum, hier sitze isch. Was willst du?“, fragt er mit türkischem Akzent. Darauf ich: „Ich finde es nicht richtig, wenn Sie mit Ihren Schuhen den Sitz beschmutzen; vielleicht sind Sie ja vorhin auf der Straße durch Dreck oder Hundekacke gelaufen.“
Der Halbstarke regt sich keinen Millimeter, schaut zu seinem Kumpel auf der Sitzbank nebenan, der mit Kopfhörern auf den Ohren halblaut einen Rapsong durch die Zähne quetscht, wobei hin und wieder Wörter wie „ficken“ und „Fotze“ zu vernehmen sind. Den Kopfhörer abnehmend, fragt der Rapper seinen Kompagnon: „Was will der?“ – „Weiß nisch“, antwortet der und setzt, zu mir gewandt, laut hinzu: „Lass misch in Ruh, sonst isch vergewaltige deine Mutter in Kinderzimmer!“
Ich bin wie sprachlos. Außer ein halblautes „Voll cool, Alter“ fällt mir nichts ein. Die beiden Frauen, die hinter uns sitzen, senken ihre Blicke. Soll ich den Busfahrer holen, frage ich mich. Lohnt sich der Stress? Haben die Messer dabei?
An der nächsten belebten Haltestelle steige ich aus.
RICHARD ROTHER
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