Leipzger Buchmessen-Preisträger Georg Klein: "Erinnern ging nicht ohne Schmerz"
Wenn anderen der Mund offensteht, genießt der Erzähler seine Macht. Der Schriftsteller Georg Klein über Kinderbanden, die Magie von Namen und seinen "Roman unserer Kindheit".
taz: Herr Klein, welche Bücher haben Sie selbst als Kind gelesen und geliebt?
Georg Klein: Mein Erinnerungsgefühl behauptet: Als Kind habe ich ausnahmslos alle Bücher geliebt, deren Umschläge mir vor Augen kamen. Heiß begehrt habe ich die Bücher im Schaufenster des Tabak- und Zeitschriftengeschäfts, das zugleich eine Leihbücherei und damit der erste Bucherwerbsort war, den ich kennenlernte. Schon bevor ich selber flüssig lesen konnte, habe ich mich neidvoll durch die Bücher geblättert, in die sich meine Mutter, die eine echte Suchtleserin war, bei jeder Gelegenheit mit Inbrunst versenkte.
Wenn ich einen Schmöker herausgreifen darf: Ich weiß noch, welche Mühe es mich kostete "Lieben Sie Brahms?" von Françoise Sagan in vielen Anläufen auch nur halbwegs zu verstehen. Aber da der Roman meiner Mutter so gut gefiel, musste er etwas Ungeheueres enthalten, also fing ich immer wieder von vorne an.
Merkwürdigerweise sind die Erinnerungen an solche Kämpfe, Niederlagen und mühsam errungene Teiltriumphe deutlicher und bei aller erneut gefühlter Verbissenheit weit süßer als das, was mir mein Gedächtnis über die Lektüre von Kinder- und Jugendbüchern erzählen mag.
Dennoch folgt Ihr Buch "Roman einer Kindheit" bestimmten Mustern der Kinderliteratur. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe von acht Kindern: Geschwister und Freunde, die in einer süddeutschen Vorstadtsiedlung aufwachsen.
geboren 1953 in Augsburg, lebt mit der Schriftstellerin Katrin de Vries und zwei Söhnen in Ostfriesland. Vor vier Jahren schrieb er für die taz über das Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. 1999 wurde er mit dem Brüder Grimm-Preis ausgezeichnet, nachdem ein Jahr zuvor sein Roman "Libidissi" viel diskutiert wurde. Seitdem gilt er als Mann für das Abseitige und Seltsame. 2000 folgte der Ingeborg-Bachmann-Preis. Der "Roman unserer Kindheit", erschienen bei Rowohlt, 448 Seiten, trug ihm die Nominierung zum Buchpreis Leipzig ein.
Ja, "Roman unserer Kindheit" ist auch ein Kinderbandenbuch, und damit gehört der Roman in gewisser Weise zu einem Genre. Zumindest wird er bei den Lesenden bestimmte Genreerwartungen provozieren, einlösen, aber auch in ungewohnte Bahnen umlenken. Natürlich hoffe ich vor allem auf Erlösung! Genres, in Geläufigkeit erstarrte Erzählsysteme, müssen von sich selbst, eigentlich "zu" sich selbst erlöst werden. Das Kinderbandenbuch verspricht Geborgenheit im Kollektiv. Diese Verheißung steht zwangsläufig im Widerspruch zur Identifikation mit einem Helden. Im besten Fall springt der heroische Funke auf die Gemeinschaft über und das Kollektiv der Kinder wächst in tragischer Gefahr über sich selbst hinaus.
Nun ist dies ein Roman für erwachsene Leser, die solche Genrekonventionen durchschauen. Sie kennen sie ja von Erich Kästner oder Enid Blyton. Verblüffend ist, dass Sie eine "Acht Freunde"-Geschichte mit einem Ernst erzählen, als wäre es das erste Mal.
Literaturerfahrung, wie sie mir - beim Lesen wie beim Schreiben - als Ideal vorschwebt, ist ein ernsthaftes Spiel. Dieses Spiel folgt vorgegebenen Regeln und ist dennoch nie restlos auszurechnen. Gerade der in einem Genre geübte Leser erlebt den schönsten Lesemoment dann, wenn sein routiniertes Bescheidwissen durch das unwillkürliche Spiel der eigenen Fantasie jählings aufgehoben wird. Die totale Kontrolle über die Machart eines Textes führt dagegen letztlich zu einem gelangweilten Zynismus. Das Andere, das unverhoffte Glück der Überraschung, diesen verstörenden Selbstkuss des kreativen Systems, muss der Lesende allerdings auch aushalten können. Man sagt, die Kindheit eines Menschen sei vollends verstrichen, sobald er die Fähigkeit zum kindlichen Spiel unwiederbringlich verloren habe. Das verwaiste Feld bewirtschaftet, neben anderen Landwirten, die Literatur.
Sie haben kein Geheimnis aus dem autobiografischen Charakter des Buches gemacht. Haben Sie sich gern erinnert?
Falls man sagen kann, dass das Erinnern Gelenke und Muskeln hat, dann habe ich die eine oder andere Stelle dieses Bewegungsapparats bei der Niederschrift dieses Romans zum ersten Mal gespürt. Das ging nicht ohne Schmerzen ab. Um im Sprachbild zu bleiben: "Es" tat weh und wohl zugleich. Um im Körperbild zu bleiben: An den Augäpfeln habe ich es zunächst am deutlichsten gespürt. Die ersten Kapitel sind quasi mit zusammengekniffenen Lidern geschrieben, so übermäßig hell kam mir das Heraufbeschworene vor.
Der Protagonist, der zehnjährige Anführer der Kindergruppe, wird immer nur "der ältere Bruder" genannt, auch die Namen seiner Geschwister und Eltern erfahren wir nicht.
An den Namen lässt sich spüren, wie sehr unser Sprechen noch immer auf magische Verfahren vertraut. Namen beschwören und bannen. Das Neubauviertel, in dem ich aufgewachsen bin, hieß und heißt "Bärenkeller", und ich habe dies als Kind nie für einen Zufall, sondern stets für ein bedeutungsreiches Geheimnis gehalten, das mich und meine Freunde unmittelbar anging. Die Übernahme, die Veränderung und das Verschweigen bestimmter Namen war von Anfang an eine heikle Sache, die wirklich über das Gelingen und Misslingen des Erinnerns und Erzählens mitentschied.
Ähnlich verhält es sich mit dem "Ich". Es schien mir günstiger, das Alter Ego des Autors nicht durch ein erzählendes Ich in den Text hineinzustempeln. Mit derartigen Vermeidungen sind natürlich Risiken verbunden; denn die Identifikation mit einem berichtenden Helden gehört zu den zwingend verführerischen Angeboten, die ein Prosatext machen kann.
Auch wenn er nicht "ich" sagt, wird sich wohl jeder gern mit diesem "älteren Bruder" identifizieren. Er beherrscht die Kunst des Erzählens.
Wie viel mein Schreiben dem mündlichen Erzählen verdankt, habe ich erst während der Arbeit an diesem Roman begriffen. Das ist merkwürdig, denn eigentlich konnte ich all die Jahre beobachten, wie häufig Szenen und Vorkommnisse, die mir berichtet worden waren, in meine Texte schlüpften. Womöglich ziehe ich sogar oft das Erzähltbekommen der direkten Wahrnehmung des Dabeiseins vor. Zweifellos habe ich es als Neunjähriger genossen, meine Freunde durch eine mehr oder minder erfundene oder aus Gelesenem kolportierte Geschichte so zu fesseln, dass ihnen die Münder offen standen. Und wenn mein jüngerer Bruder, der als Kind ein begnadeter Witzeerzähler war, einem seiner besten Witze wie aus dem Nichts eine neue Pointe verpasste, war ich selbst auf der Seite der lustvoll Überwältigten.
Neben den Kindern gibt es in Ihrem Roman auch viele Erwachsene, Eltern, Ladenbesitzer und ein paar außergewöhnliche Figuren dazu.
Die Erwachsenen im Roman, der ja auch der Roman meiner Kindheit ist, mussten, so merkwürdig dies klingen mag, mit einer besonderen Sorgfalt neu erinnert werden. Ihr Bild war doppelt verkrustet. Zum einen überdeckte ihre einstige Wirklichkeit die übliche Firnis aus Anekdoten. Das allzu oft Erzählte ist eine hochwirksame Form des Verdrängens. Noch schwieriger aber war es, die inzwischen etablierten Ausdeutungen der Großen von einst, diese Sichtblende aus Rationalisierungen und Verharmlosungen, ein Stückchen beiseitezuschieben.
Kinder sehen ja weit mehr an "ihren" Erwachsenen, als denen lieb ist. Auch für die Kleinen selbst ist dieser überwache Blick auf die angeblichen Bewältiger des Lebens, auf ihre hilflosen Hüter und ohnmächtigen Beschützer eigentlich zu viel. Kinder erkennen das Dasein ihrer Eltern in seiner ganzen Verstricktheit als "tragisch", lange bevor ihnen die einschlägigen Wörter und Sätze zu Hilfe kommen.
Der Titel Ihres Buches lautet nicht "Roman meiner Kindheit" oder "Kindheitsroman", sondern "Roman unserer Kindheit". Wen meint dieses "unserer"? Sie und Ihre Generation? Jeden Leser des Buches?
Die ersten Leser des Romans haben mir gesagt, sie fühlten sich, obwohl sie anderen Altersgruppen angehören und als Kinder eine andere soziale Außenwelt erlebt haben, lesend dennoch wie in "ihrer" Kindheit. Das hieße, unsere Kindheit wäre weniger das Eingebundensein in spezifische Verhältnisse, sondern mehr eine eigentümliche Organisation der Seele. Um diese Seelenordnung wiederzuerleben, genügt es wohl nicht, sich mit einer einzelnen, recht kindlich gemalten Figur zu identifizieren. Alle am Kindsein beteiligten Instanzen der Innenwelt müssen im Roman repräsentiert sein.
Eine Zeit lang habe ich überlegt, ob das Buch Einsprüche derjenigen zu befürchten hat, die sich bei seiner Lektüre unweigerlich wiedererkennen müssen. Aber irgendwann habe ich darauf vertraut, dass auch diese inzwischen groß und fremd gewordenen ehemaligen Freunde und Lieblingsfeinde den höheren Sinn des Romanspiels erspüren und genießen können. Dann müssten sie der Kunst die brachiale Willkür, mit der sich diese die Vergangenheit angeeignet hat, angemessen gnädig, angemessen gnadenreich verzeihen. Damit wäre ein magischer Tausch vollzogen: Wer alles, sein ganzes erzählbares Leben, hergibt, erhält als Gegengabe dessen schönsten Abglanz: die Illusion der Ewigkeit.
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