WM-Auftritt der "Three Lions": Der englische Patient

Sie packen's einfach nicht: England könnte wieder scheitern. Kein Wunder: Seit 1966 drückt die Mannen aus dem Mutterland des Fußballs ein Trauma.

Kaum hat er die Three Lions auf der Brust, klappt's nicht mehr: Wayne Rooney. Bild: ap

Wer kennt sie nicht: Butler James, Miss Sophie und das malträtierte Tigerfell. Doch der TV-Sketch ist nur in Deutschland ein alljährlich wiederkehrender Silvesterrenner, in England dagegen nahezu unbekannt. Wäre er das nicht, die dortigen Blätter würden wohl regelmäßig titeln: "Same Procedure As Every 4 Years".

Ist es doch so: Seit die englische Nationalmannschaft 1966 im eigenen Land Weltmeister wurde, seit dem Wembleytor, seit Gottfried Dienst und Tofiq Bährämov, seit Helmut Haller den Spielball nach Deutschland verschleppte, reisen die Mannen aus dem Mutterland des Fußballs zwar zu großen Turnieren - um dort freilich in unschöner Regelmäßigkeit zu scheitern. Wenn sie denn überhaupt anreisen dürfen und sich nicht bereits zuvor in der Qualifikation blamiert haben. England leidet: 44 Jahre ohne Titel, oder, wie der Guardian schrieb: "44 Jahre draußen in der Wildnis".

Auch das südafrikanische Abenteuer, so sieht es nun aus, wird wohl tragisch enden. Die englische Presse beobachtet im Quartier in Pkokeng bereits wieder begeistert jenes "Festival der Selbstzerfleischung" (The Guardian), das englische Teams seit den Siebzigerjahren geradezu zwanghaft aufzuführen scheinen - und dazu brauchen sie diesmal nicht einmal die "Wags" ("Wifes and Girlsfriends"), weil die Spielerfrauen keine Lust auf die Reise hatten.

Nach den beiden erbärmlich fantasielosen Unentschieden zum Auftakt gegen die USA und Algerien werden Krisensitzungen einberufen und meutern die erfahrenen Spieler gegen Trainer Fabio Capello. Der wiederum bescheinigt ihnen, dass sie augenscheinlich nicht zurechtkämen "mit dem Druck einer Weltmeisterschaft".

Es musste wohl ein Italiener wie der Coach Englands den Job übernehmen, um den Engländern zu erklären, was der Rest der Welt schon lange weiß: Kaum sollen die sonst so abgezockten Premier-League-Profis für ihr Land einen Pokal gewinnen, beginnen ihnen die Knie zu schlottern. Steven Gerrard diagnostizierte "großen Druck, der auf den Jungs liegt, eine unglaubliche Anspannung". Aber auch der Kapitän klingt eher ratlos vor dem Alles-oder-nichts-Spiel gegen Slowenien (Mittwoch, 16 Uhr), das man gegen den Fußballgiganten aus Südosteuropa unbedingt gewinnen muss, um ins Achtelfinale zu gelangen: "Wir müssen den Schalter finden, irgendeinen Schalter."

Den Englands Team seit vier Jahrzehnten nicht umzukippen vermag. Es hadert mit einem Trauma, das eine endlose Geschichte aus verschossenen Elfmetern und Torwartfehlern generierte. Ein Trauma, dessen Saat 1966 gelegt wurde und 1970 ausbrach: Als Titelverteidiger nach Mexiko gereist, schoss eine gealterte Mannschaft um den 32-jährigen Bobby Charlton in drei Gruppenspielen gerade mal zwei Tore. Das eigentliche Drama begann im Viertelfinale. Trotz eines 2:0-Vorsprungs gegen Deutschland verlor man in der Verlängerung 2:3. Die Deutschen sollten anschließend gegen Italien in einem noch dramatischeren "Spiel des Jahrhunderts" ausscheiden, aber sie hatten die bösen Geister von Wembley erfolgreich ausgetrieben. Doch für England begann am 14. Juni 1970 in León, als Gerd Müller in der 108. Minute zum 3:2 traf, die englische Fußballkrankheit.

Fortan scheiterten englische Mannschaften, und sie taten es immer wieder neu: 1974 und 1978 bereits in der Qualifikation, 1982 in der WM-Zwischenrunde ohne ein Tor. Die 1986er-Mannschaft wurde im Viertelfinale von der Hand Gottes gestoppt, die von 1990 in einem halbfinalen Elfmeterschießen von stahlharten deutschen Nerven.

Was all diesen Mannschaften gemeinsam war: England starb auf dem Feld zwar oft tragisch, aber niemals in Schönheit wie Spanien oder die Niederlande. Auch die, die weit kamen, bauten allein auf Kampf und Glück und gelegentliche Geistesblitze einzelner Größen wie Paul Gascoigne, als den das Lotterleben noch nicht zugrunde gerichtet hatte. Selbst jene Mannschaften, die weit kamen bei Weltmeisterschaften, selbst jene, die überzeugende Qualifikationen gespielt hatten, sie alle fielen bei den Turnieren durch inspirationslosen Roboterfußball auf.

Und gerade die aktuelle Mannschaft scheint schwer an der Bürde zu tragen, endlich wieder einen Titel heimbringen zu müssen. Anders ist es kaum zu erklären, dass gegen Algerien selbst dem technisch überdurchschnittlichen Wayne Rooney unglaubliche Stockfehler unterlaufen, dass von ihrer Athletik lebende Spieler wie Steven Gerrard über den Platz schleichen wie unter schlechten Drogen stehend, dass Profis, die regelmäßig in der besten Liga der Welt und in der Champions League auf höchstem Niveau und unter größtem Druck agieren, die Knie weich zu werden beginnen, sobald sie das Trikot mit den drei Löwen überstreifen. Da wundert sich auch John Terry, Verteidiger und einer der Führungsspieler: "Jeder weiß, dass wir Fußball spielen können. Wir beweisen das Woche für Woche in der Champions League."

Ja, liebe Tommys, aber leider nicht in der Nationalmannschaft: In der Qualifikation für die WM 1994 gelang euch ja sogar das Kunststück, gegen San Marino, den zwergigsten aller Fußballzwerge, ein Tor nach nur 27 Sekunden zu kassieren. Das Spiel wurde zwar noch gewonnen, die WM aber verpasst: beschämend sondergleichen.

1998 war dann erst im Achtelfinale Schluss: Mal wieder Elfmeterschießen, aber immerhin nicht gegen die Deutschen, sondern Argentinien. 2002 beförderte ein irrlichternder Torhüter die Engländer in einem denkwürdigen Viertelfinale gegen den späteren Weltmeister Brasilien aus dem Turnier: David Seaman ließ sich von Ronaldinho aus gut 35 Metern düpieren, aber schlimmer als der Patzer war sogar noch seine verzweifelt jugendliche Zopffrisur. 2006 im Viertelfinalelfmeterschießen gegen Portugal traf nur ein einziger Engländer vom Punkt - natürlich der in Kanada geborene und in Deutschland fußballausgebildete Owen Hargreaves.

Überhaupt scheint das Elfmeterschießen in den Siebzigern ausdrücklich deshalb eingeführt worden zu sein, um Engländer zu quälen: Siebenmal mussten sie bei großen Turnieren schon zu dieser Lotterie antreten - sechs Mal schieden sie aus. Eine ähnlich deprimierende Quote haben nur noch die Niederländer.

Natürlich hat England auch rein sportliche Probleme. Die Nachwuchsarbeit wurde in den letzten Jahren vernachlässigt, das Lehrlingssystem der Profivereine ist nicht mehr zeitgemäß, aus den Jugend- und Juniorenteams rücken kaum noch talentierte Verstärkungen nach. Natürlich kann man auch die Frage stellen, ob Profis, die mit Kneipenschlägereien (Wayne Rooney), Fremdgehen mit den Ehefrauen von Kollegen (John Terry) und dem mutmaßlichen Schwängern von Sechzehnjährigen (Steven Gerrard) beschäftigt sind, ihrem Beruf mit der nötigen Ernsthaftigkeit nachgehen.

Aber das grundsätzliche Problem ist der Druck, welcher sich in Jahrzehnten der Sisyphosarbeit aufgebaut hat und mit jedem neuen Versagen wächst. Nur so scheint sie erklärlich, die unendliche Liste aus peinsamen Torwartpatzern, bescheuerten roten Karten und beklagenswert versemmelten Elfern, die noch viel länger wäre, wenn wir Europameisterschaften mit einbeziehen würden.

An diesem Druck sind bereits talentiertere Spielergenerationen als die aktuelle zerbrochen - und eine Armada großer Trainer mit guten Vorsätzen. "Das Problem ist das Selbstvertrauen", analysierte Capello kurz nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren und nahm sich vor: "Ich muss hier grundsätzlich etwas verändern." Doch auch der italienische Meistertrainer scheint an der englischen Disposition zu verzweifeln. "Die letzten beiden Jahre waren Zeitverschwendung", sagt er nun, "der Druck fährt den Spielern in die Beine."

Aber never mind: Im Königreich ihrer Majestät hat man mittlerweile ein geradezu libidinöses Verhältnis zum eigenen Scheitern entwickelt. Als Capello entgeistert feststellte: "Das ist nicht das England, das ich kenne", konterte das Boulevard-Blatt The Sun trocken: "Nun, das ist das England, das wir kennen."

Zu Recht! Ist es nicht stets das gleiche Ritual? Die Mannschaft wird vor dem Turnier zum Favoriten hochgejazzt, spielt dann nicht überzeugend und wird von derselben Presse so genüsslich zerlegt, dass die Spieler beginnen, an sich selbst zu zweifeln. Es ist eben: "The same procedure as every four years"

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