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Montagsinterview mit Nihat Sorgec"Ich bin Vertreter der Mehrheit der Minderheit"

Nihat Sorgec hat Bundeskanzlerin Angela Merkel getroffen und US-Präsident Barack Obama. Seine eigene Geschichte ist die eines ideenreichen Aufsteigers, der früh Deutscher wurde, seine Wurzeln aber nicht vergessen hat.

Deutscher mit türkischen Wurzeln, ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz: Nihat Sorgec auf dem Dach des Bildungswerks Kreuzberg. Bild: Wolfgang Borrs
Interview von Alke Wierth

taz: Herr Sorgec, was steht derzeit so auf Ihrem Programm?

Nihat Sorgec: Wir haben gerade mit dem Bürgermeister von Neukölln über Qualifizierungsmaßnahmen für Eltern gesprochen. Es gibt an den Schulen viele Jugendliche und Kinder, die aus Familien kommen, wo nur sie morgens aufstehen müssen. Da müssen wir an die Eltern ran, die in Arbeit bringen. Diese Kinder brauchen doch Vorbilder! Dann war die Senatorin für Arbeit und Integration Carola Bluhm hier: Mit ihr haben wir darüber nachgedacht, wie wir den Anteil von MigrantInnen im öffentlichen Dienst erhöhen können. Wir müssen die Jugendlichen vorab qualifizieren, damit sie den Anforderungen dieser Jobs gewachsen sind. Wir haben mit solchen Qualifizierungskursen etwa für Banken gute Erfahrungen. Und das größte Projekt, mit dem wir uns derzeit befassen, ist die Ausbildung interkultureller Altenpfleger, die wir hier jetzt anbieten. Da müssen wir …

Im Interview: 

Nihat Sorgec wurde vor 52 Jahren im türkischen Antakya geboren und kam als 14-Jähriger nach Deutschland. Er ist geschieden und Vater eines 15-jährigen Sohnes.

Nach längerer Selbstständigkeit baute der Diplomingenieur vor 22 Jahren das Bildungswerk Kreuzberg (BWK) mit auf, dessen Geschäftsführer er heute ist. Das BWK bietet an mittlerweile vier Standorten in Berlin überbetriebliche Ausbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen in weit mehr als 50 verschiedenen Berufen für Jugendliche und Erwachsene an.

Erstmalig schult das BWK seit vergangenem Herbst auch JournalistInnen mit Migrationshintergrund. Die taz ist Medienpartnerin dieser "Bikulturellen crossmedialen Fortbildung" und betreut derzeit mehrere PraktikantInnen aus dem neunmonatigen Lehrgang. Der nächste Lehrgang beginnt im September 2010, die Bewerbungsfrist läuft bis zum 31. Juli (mehr Informationen unter www.bwk-berlin.de).

Für sein Engagement wurde Sorgec, der auch Teilnehmer beim Integrationsgipfel sowie der Islamkonferenz der Bundesregierung war, das Bundesverdienstkreuz verliehen. Im Herbst 2008 besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das BWK. Im April diesen Jahres nahm Sorgec auf Einladung von US-Präsident Barack Obama an einer internationalen Tagung muslimischer Unternehmer in Washington teil - als einer von zwei Gästen aus Deutschland.

Halt, stopp, bitte! Erst die Qualifizierungsmaßnahmen für Banken: Was war das?

Auch Banken sind Jugendlichen mit Migrationshintergrund gegenüber bisher eher konservativ eingestellt. Sie beklagen, dass diejenigen, die sich bei ihnen um Ausbildungsplätze bewerben, die Voraussetzungen nicht erfüllen. Das ist klar: Es fehlt ihnen oft nicht nur an fachlicher, sondern auch an der nötigen sozialen Kompetenz. Wir haben mit einer Einstiegsqualifizierung in Kooperation mit einer Bank erreicht, dass über 20 junge Leute dort in die Ausbildung einsteigen konnten. Wir haben sie vier Wochen lang darauf vorbereitet, wie sich zu verhalten, zu kleiden, auszudrücken haben, wenn sie in einem Dienstleistungsbetrieb arbeiten wollen, bei dem man vertrauenerweckend auftreten muss. Und siehe da, als sie nach diesen ersten vier Wochen in die Praktika gingen, haben wir etwa einen russischen Jugendlichen in eine Bankfiliale Unter den Linden geschickt - und plötzlich stellt die Bank fest, dass sie den gut gebrauchen kann: Um die Ecke ist die russische Botschaft, die Filiale floriert! Jetzt wollen wir so etwas auch für die Verwaltung machen.

Moment: Was die Jugendlichen in zehn Jahren Schule nicht gelernt haben, bringen Sie ihnen in vier Wochen bei?

Die Jugendlichen gehen in Schulen, auf denen sie - abgesehen von den Lehrern - keinerlei Kontakt zu Deutschen haben. Manche sagen mir, dass sie hier im Bildungswerk Kreuzberg - kurz BWK - zum ersten Mal mit deutschen Gleichaltrigen zu tun haben. Deshalb lege ich viel Wert darauf, dass wir hier mindestens 40 Prozent Jugendliche mit deutschen Wurzeln haben. Dazu kommt, dass die Lehrer, die ja meist aus der Mittelschicht kommen, die über Abitur und Studium verfügen, nie die freie Wirtschaft und die leistungsorientierte Gesellschaft kennengelernt haben. Die können den Kindern bestimmte Kompetenzen, die man da draußen braucht, gar nicht vermitteln. Das steht nicht im Lehrplan. Dafür können aber die Lehrer nichts: Das System muss sich an die Zeit anpassen. Die Gesellschaft hat sich verändert: Wir sind eine Dienstleistungsstadt geworden, keine Industriestadt mehr. Deshalb haben wir ja die hohe Arbeitslosigkeit bei Migranten, von denen viele keinen Beruf gelernt haben.

Und denen geben Sie jetzt unter anderem hier im BWK die Möglichkeit, interkulturelle Altenpfleger zu werden - um auch darauf noch mal zu kommen?

Ja, wir haben jetzt diese Ausbildung gestartet, bei der Glaube, Bräuche und Mentalität der Senioren berücksichtigt werden. Dem Veränderungsprozess dieser Gesellschaft müssen sich eben viele Sachen anpassen. Teil der Idee ist auch, hier im Haus ein Altenheim zu eröffnen. Es wäre doch großartig, ein Pflegeheim mitten hier im Kiez zu haben, wo die Leute ihr halbes Leben verbracht haben, wo sie sich auch beim Mittagessen mit unseren Jugendlichen hinsetzen und reden können. Das sind Sachen, die wichtig sind. Wir haben hier unter den Kollegen sogar schon überlegt, dass wir vielleicht in zehn, zwanzig Jahren von unserem eigenen Lehrgang betreut werden können - wer weiß!

Sie denken doch nicht wirklich daran, in zehn Jahren aufzuhören?

Nein.

Was treibt Sie an?

Es macht mir Spaß! Gerade lag ein Päckchen Pralinen hier, von einem Jugendlichen, der die Prüfung bestanden hat und jetzt arbeitet. Sehr schön! Oder hier, ein Schreiben von einem Jugendlichen, der hier seine Ausbildung gemacht hat: "Lieber Herr Sorgec, ich bedanke mich dafür, dass ich die Chance hatte, bei Ihnen eine Ausbildung anzufangen und auch zu beenden. Wenn ich mal schwierig war, entschuldige ich mich. Zum Glück gibt es noch Menschen wie Sie, die sich einsetzen." Das kommt von einem türkischen Jungen, mit dem wir große Probleme hatten, er hat ständig gefehlt. Ich habe ihn mir immer wieder zur Brust genommen, ihm gesagt: "Junge, möchtest du so leben wie dein Vater, der total resigniert den ganzen Tag in der Kneipe hängt?" Und der Junge hat verstanden. Ich habe die gleiche Sozialisation wie diese Jugendlichen, meine Eltern waren auch Gastarbeiter, ich fühle und denke wie sie.

Erzählen Sie etwas über sich!

Ich kam 1972 mit 14 Jahren nach Deutschland.

So spät? Wollten Ihre Eltern Sie eigentlich in der Türkei lassen?

Ja. Meine Eltern waren erst drei Jahre hier, ich war bei meinen Großeltern väterlicherseits. Meine vier Geschwister hatten die Großeltern mütterlicherseits aufgenommen. Ich war der Älteste und sollte den Großeltern helfen, für sie einkaufen und so weiter. Mein Großvater war streng, ich musste jeden Morgen um 5 Uhr aufstehen und 20 Sesamringe verkaufen, bevor ich zur Schule ging. In den Ferien habe ich in einem Restaurant als Abspüler gearbeitet, auch bei einem Schneider, ich kann nähen, bügeln, Hosen kürzen. Als ich nach Berlin kam, habe ich das weitergemacht: Ich habe Zeitungen ausgetragen, bin als Avonberater durch die Wohnheime getingelt, wo die türkischen Gastarbeiterinnen damals lebten. Für mich war es normal, morgens um kurz nach sechs aufzustehen und mit meinem Vater Tee zu trinken, bevor er zur Arbeit und ich zur Schule ging. Und abends saßen wir alle mit dem Gefühl eines erfüllten Tages gemeinsam beim Abendessen. Das waren geregelte Verhältnisse.

Was war Ihr Großvater von Beruf?

Er hat bei einem Großgrundbesitzer gearbeitet, war praktisch so etwas wie ein Knecht.

Und Ihr Vater?

Er arbeitete in Iskenderum in einer Textilfabrik. Der Besitzer war jüdischen Glaubens. In dieser Gegend der Türkei lebt eine multikulturelle Gesellschaft, in meiner Schulklasse waren viele orthodoxe Christen. Diese Interkulturalität hat sich mir stark eingeprägt.

Warum dann Deutschland?

Als ich die Mittelschule beendet hatte, wollte ich unbedingt studieren. Einer der wenigen Wege dorthin war für arme Menschen wie uns die staatliche Militärakademie. Also habe ich mich für die Aufnahmeprüfung gemeldet und bestanden. Damals habe ich meinem Vater das erste Telegramm meines Lebens geschickt: "Ich habe die Prüfung für die türkische Militärakademie Luftwaffe bestanden, Du kannst auf Deinen Sohn stolz sein!" Mein Vater bekam einen Schock: Das bedeutete sechs Jahre Drill, Drill, Drill! Er hat sich ins Flugzeug gesetzt und mich nach Deutschland mitgenommen.

Wie fanden Sie das?

Super, toll! Deutschland war für mich damals … Nein, fangen wir von Anfang an: Sonntags war immer mein schönster Tag. Von dem Geld, das ich verdiente, durfte ich täglich 50 Kurus behalten, das waren am Sonntag 3 Lira. Dafür habe ich Süßigkeiten für meine Geschwister gekauft. Die habe ich jeden Sonntag besucht, ich war ja der große Bruder. Das war eine harte Zeit. Ich war quasi Vater und Mutter für meine Geschwister. Das formt, auch in Bezug auf Verantwortung übernehmen und tragen. Aber Sonntag konnte ich auch ins Kino! Ich habe meistens amerikanische Filme angeschaut. Und Deutschland war für mich das, was ich in diesen amerikanischen Filmen gesehen habe: New York, Manhattan, Cadillacs! Und dann kommt man in die Lehrter Straße in Berlin-Moabit …

Da waren Sie enttäuscht.

Ziemlich. Es war grau, wir wohnten im dritten Hinterhof, Einzimmerwohnung, Ofenheizung, düster. Man kam sich vor wie ein Mensch der dritten oder vierten Klasse. Zudem musste ich nach kurzer Zeit feststellen, dass hier nun meine Eltern auf mich angewiesen waren. Ich musste Bürokratie und Behördengänge erledigen, Übersetzungen machen, obwohl ich ja selbst noch kaum Deutsch konnte. Meine Eltern konnten es aber noch schlechter und sie mussten ja auch arbeiten gehen.

Und Sie mussten in die Schule.

Ja. Das war auch eine Enttäuschung. Ich bin in eine Eingliederungsklasse für Flüchtlinge und Gastarbeiterkinder, die kein Deutsch können, gekommen. Neben mir saß jemand, der Analphabet war. Ich hatte acht Jahre lang in der Türkei die Schule besucht und nun saß neben mir jemand, der nicht lesen und schreiben konnte! Mathe war mein Lieblingsfach, aber als dort der Lehrer mit 2 plus 2 gleich 4 anfing, dachte ich, der will mich veräppeln. Nach drei Monaten habe ich einen Mitschüler, der Deutsch konnte, mit zum Schulleiter genommen und dem durch diesen Dolmetscher mitteilen lassen, dass meine Eltern mich eigentlich geholt hätten, damit ich Ingenieur werde.

Wie haben Sie denn Deutsch gelernt?

Ich habe angefangen, in der Stadtbibliothek deutsche Kinderbücher auszuleihen. Ich habe mich natürlich geschämt und vorne bei dem Fräulein immer gesagt: Für meinen kleinen Bruder! Nach einem dreiviertel Jahr konnte ich dann in eine normale siebte Klasse, nach ein paar Monaten in die achte und wieder nach ein paar Monaten in die neunte. Auf meinem Zeugnis hatte ich dann nur Einsen und eine Zwei: In Deutsch mündlich! Ich habe mich dann auf Anraten eines Lehrers um eine Ausbildung beworben: Bei Siemens, Osram und AEG Telefunken. Der Lehrer hat für mich die Bewerbungen geschrieben. Und ich habe drei Zusagen bekommen. 1975 habe ich bei Siemens angefangen. 1978 wurde ich als Facharbeiter übernommen und habe nebenbei das Abendgymnasium besucht und Abitur gemacht. Und dann habe ich angefangen zu studieren. Und nebenbei gearbeitet: In den Ferien bei Siemens. Und im Palais am Funkturm gekellnert. Bei einer DGB-Tagung habe ich sogar mal Willy Brandt bedient.

Sind Sie in der SPD?

Nein, ich bin parteilos. Ich will in der Lage sein, allen Parteien konstruktiv und kritisch gegenüberzustehen. Ich sehe mich auch zwischen allen Parteien: Ich bin befreundet mit Grünen, Linken, mit SPD- ebenso wie mit CDU-Leuten. Nur zur FDP habe ich bisher wenig Draht. Aber mal sehen: Der türkische Außenminister Davutoglu will mit seinem deutschen Kollegen Guido Westerwelle zu uns kommen. Vielleicht klappt das ja.

Auch die Bundeskanzlerin war schon hier, Sie wiederum haben auf Einladung von US-Präsident Barack Obama bei einer Tagung muslimischer Unternehmer in Washington teilgenommen - warum treffen Sie sich eigentlich so gerne mit solcher Politprominenz?

Ich habe nie jemanden eingeladen! Aber natürlich fühle ich mich dadurch geehrt. Die vielen Kontakte ergeben sich auch aus meinen ehrenamtlichen Tätigkeiten. Ich habe 17 solche Ämter: Beim Integrationsgipfel, bei der Islamkonferenz …

Wen vertreten Sie da?

Ich sehe mich dort als Vertreter der Mehrheit der Minderheit.

Wie meinen Sie das?

Die Verbände behaupten immer, sie verträten 90 Prozent der Muslime oder der Türken. Das ist Quatsch! 60, 70 Prozent der Türkeistämmigen sind nicht in solchen Vereinen und wollen damit auch nichts zu tun haben. Und das sind oft die gut Integrierten. Sie sind die, die nirgendwo ihre Stellvertretung finden. Denn viele der Verbände wollen in der Opferrolle bleiben. Wenn man sich die Vertreter dieser Vereine aber anschaut, sieht man, dass die oft in ihrem ganzen Leben nichts anderes getan haben als auf Vereinsebene zu jammern. Die haben nie richtig gearbeitet! Und sie haben auch nicht die Sozialisation der Menschen, die sie vertreten wollen, trotz der gleichen Wurzeln: Viele dieser Vereinssprecher sind zu Studienzwecken nach Deutschland gekommen. Es müssen aber Gastarbeiterkinder in diese Positionen, die hier sozialisiert wurden, die sich mit diesem Land ganz anders identifizieren. Die Brücken bauen statt zu spalten. Das sind wir dieser Gesellschaft schuldig.

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