Welt-Boulevard Fifth Avenue: Wer es hier schafft, schafft es überall
Stephan Wackwitz wandelt in seinem Essay "Fifth Avenue" entlang der New Yorker Prachtstraße. Sie steht für ihn für das 20. Jahrhundert, von Jazz bis Wolkenkratzer.
Das Buch fängt ganz schlicht an. "Die Fifth Avenue entspringt (denn wir erzählen in Richtung des Verkehrsflusses von der berühmten New Yorker Einbahnstraße) am nordöstlichen Stadtrand von Harlem." In dem eingeklammerten Einschub ist zum Aufbau des Buchs bereits das Wesentliche gesagt: Der Essayist Stephan Wackwitz wird in ihm dem Verlauf der Fifth Avenue in Manhattan folgen und Phänomene beschreiben, die auf seinem Weg liegen.
Das klingt zunächst nach einer ganz interessanten (und etwas betulichen) Schlenderei. Aber im weiteren Verlauf gleich auf der ersten Seite fallen bald Signalwörter, die anzeigen: Hier geht es aufs Ganze. Als "Weltboulevard" wird die Fifth Avenue bezeichnet. Die Fifth Avenue ist für Stephan Wackwitz die Hauptstraße der Moderne und des 20. Jahrhunderts. Über das Metropolitan Museum, das in Höhe der Upper East Side an der Fifth Avenue liegt, heißt es, dass in ihm "die Summe all dessen aufbewahrt ist, was Menschen mit der Welt erleben können". Das lässt sich übertragen. Die Fifth Avenue ist für Wackwitz ein Erfahrungsspeicher, in dem die wesentlichen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts zusammenlaufen.
Für Essayisten ist das natürlich eine reizvolle Grundthese. Um es mit den Worten Frank Sinatras zu sagen: "If you can make it there, you can make it anywhere." Wenn du die Fifth Avenue essayistisch in den Griff kriegen kannst, dann kannst du wesentliche Erfahrungen und Ideen des 20. Jahrhunderts verstehen!
Am Anfang der Fifth Avenue stößt Stephan Wackwitz auf ein Denkmal für das "369th Infantry Regiment (15th Regiment NYG) (Colored)", eines rein schwarzen Regiments, das im Ersten Weltkrieg gekämpft hat. Wackwitz erzählt die Geschichte seines größten Helden, eines Soldaten Henry Lincoln Johnson, der mit hohen Orden dekoriert wurde - was aber für die Emanzipation der Schwarzen ohne Effekt geblieben ist; nach dem Krieg wurde er bald vergessen (siehe taz, 3. 1. 2009).
Im Laufe seiner Recherchen - "der essayistische Stadtwanderer des frühen 21. Jahrhunderts macht seine Hausaufgaben im Internet" - stößt Wackwitz dann darauf, dass dieses Regiment aber eben doch wichtig war für die Aufwertung schwarzer Kultur: Die Regimentskapelle war, so Wackwitz, "eine der berühmtesten und einflussreichsten Jazzformationen der Musikgeschichte". Ihr Bandleader, der Pianist James Reese Europa, war ein Miterfinder des Ragtime, des Bindeglieds zwischen Marschmusik und Jazz. Und über den Jazz ist die Anerkennung Harlems als Zentrum der schwarzen Kultur wesentlich gelaufen.
Nicht genug damit. Von diesen Schilderungen aus kommt Stephan Wackwitz zu einem zentralen Mechanismus, durch den New York wichtig für die Weltkultur wurde: Niedere und höhere Kultur konnten hier schnell ihre Positionen tauschen. Wackwitz: "Illegitime Unterschichtenkulturen wie Jazz oder Folk fanden sich in New York mit oft spektakulärer Geschwindigkeit auf dem kulturellen Olymp wieder und Bilder von Suppendosen im ersten Museum des Landes." Das ist ein für dieses Buch typischer, verknüpfender Satz: vom Detail des Denkmals über Thesen zur Schwarzenemanzipation und Kulturgeschichte bis hin zu Andy Warhol.
Wahrnehmungsemphase
Zwei Merkmale lassen sich hier festmachen, die dieses Buch so anregend machen. Erstens: Stephan Wackwitz ist ein Wahrnehmungsemphatiker par excellence. Zu den berührendsten Passagen des Buchs gehören die, in denen er seine innere Bewegtheit, ja geradezu Verknalltheit schildert, wenn ihm wieder einmal etwas aufgefallen ist. Aber er holt diese inneren Zustände dann eben auch vollständig intellektuell ein und lotet sie aus; die innere Bewegtheit ist ihm Motor eines hochgetunten Verstehensapparates. Zweitens: Differenziertes Denken schön und gut - aber bei Stephan Wackwitz kann man gut studieren, dass es beim Verstehen gelegentlich gerade auf die entdifferenzierende Setzung ankommt. An ihr kann man sich reiben, hier kann man seine Aha-Erlebnisse abholen. Letzteres bietet "Fifth Avenue" in großer Fülle.
Anhand von Ausblicken aus den Wohnungen der Superreichen an der Upper East Side auf den Central Park schildert Wackwitz, wie sehr die Innenarchitektur Manhattans sich am Vorbild des britischen Landhauses orientiert: "Derweil träumen die Interieurs der Fifth Avenue […] in der Hauptstadt des 20. Jahrhunderts vom adligen Landleben des 18." Anhand des Museums of Modern Art erzählt er vom Projekt einer "Weltdemokratisierung durch Kunst" - und wie sie mit den ödipalen Verstricktheiten innerhalb der Mäzenatenfamilie Rockefeller zu tun hat.
Der Versuch, die überwältigende Wirkung der Wolkenkratzer Midtown Manhattans zu erklären, führt zu Lektüreausflügen in die Schriften von Rem Kohlhaas sowie in die Erhabenheitstheorie von Hegel: "Das Empire State Building längere Zeit zu betrachten bedeutet eine Begegnung mit dem Inkommensurablen."
Breit ausgemalt - und durch die Schilderung einer scheiternden Liebesgeschichte amourös befeuert - wird dann der Versuch, die typisch energiegeladene Mentalität der Bewohner Manhattans zu verstehen. Das ist ein Prunkstück dieses Buchs, in dem Wackwitz behände zwischen antiken Stoa-Konzepten, modernen "Sorge dich nicht, lebe"-Seichtigkeiten und "Panzertheorien des Ego" hin und her springt.
In die Schlussabschnitte des Buchs mischen sich dann Motive eines Abgesangs auf den bohemistischen Furor, der im südlichen Teil Manhattans lange vorherrschte. Nicht nur, dass die avantgardistische Kunst, die in Greenwich Village fürs Museum of Modern Art hergestellt wurde, längst kanonisiert und abgepuffert wurde; die Stadt, so Wackwitz, "gruselt sich" inzwischen auch vor den Sozialstrategien der Boheme. Und mit den steigenden Mietpreisen wurden ihr auch die ökonomischen Bedingungen entzogen: "Seit man als erfolgloser (als noch nicht erfolgreicher) Künstler in Manhattan so wenig noch leben kann wie der Mittelstand, zeigt sich, dass Rothko ohne die Ramones etwas fehlt (das Leben vermutlich)." Irgendwann weiß man als Leser gar nicht mehr, was man mehr bewundern soll: die Vielzahl an intellektuellen Bezügen oder die Art und Weise, wie Stephan Wackwitz es gelingt, das jetzt alles keineswegs mit den Posen von Weltwichtigkeit und Superdringlichkeit herauszuhauen.
Statt gelehrsamer Verschwitztheit strahlt das Buch gedankliche Lässigkeit und Beweglichkeit aus.
Erdung im Berufsleben
Das liegt nicht nur daran, dass Stephan Wackwitz seine Erkenntnisse stets mit selbstironischen Betrachtungen über sein Leben als Programmchef des Goethe-Instituts von New York abfedert. Vor allem meint er es ernst mit seiner Ansicht, dass seine Form der Essayistik eine "kleine" Form der Kunst darstellt.
Kleine Kunst, wie Stephan Wackwitz sie versteht, will im Unterschied zur großen Kunst - die er etwa an der Architektur des auch an der Fifth Avenue gelegenen Guggenheim Museums erläutern - die Welt nicht verändern, sondern sie nur anders interpretieren. Gerade diese Beschränkung macht solche kleine Kunst frei und unabhängig.
Vielleicht wird sich ja in einer dieser New-York-typischen Umdrehungen einmal herausstellen, dass die kleine Kunst in Wirklichkeit die eigentlich große Kunst (zumindest unserer postheorischen Zeit) ist. Aber auch vorher schon kann man sich über dieses Buch freuen, dem es gelingt, das 20. Jahrhundert ein paar Stadtspaziergänge lang anregend zu begleiten. Von ihm aus sieht dann auch die eigene Stadt, in der man lebt, wie ein Terrain voller möglicher intellektueller Entdeckungen aus.
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