Demagoge Sarrazin: Aufklärung und Zucht und Ordnung
Sarrazin muss die Bundesbank verlassen, aber als Betriebsnudel wird er den Talkshows erhalten bleiben.
Im Anfang war die Prognose. Und sie fiel, na klar, düster aus: "Der Mainzer Staatssekretär Thilo Sarrazin hat ausgerechnet, er müsste bis 2010 rund 11.000 Stellen streichen, um dann 42.900 Pensionäre kostenneutral unterhalten zu können", meldete im August 1994 der Spiegel. Die Überschrift des Artikels ("Da geht gar nichts") dürfte Sarrazin gefallen haben, wenngleich sie weniger sarrazinesk ausfiel als jene, unter der sein Name zwei Jahre zuvor zum ersten Mal im Spiegel aufgetaucht war: "Allerhöchste Zeit zur Umkehr."
Seither, seit seinen Tagen als Staatssekretär im Mainzer Finanzministerium (1991-97) kam Sarrazin nicht mehr davon weg, mehr und mehr Dinge "auszurechnen": von Expertisen als Berliner Finanzsenator unter Klaus Wowereit (2002-09), wie man sich mit Hartz IV gesund ernähren kann (4,25 Euro pro Tag!) und gut durch den Winter kommt (dicke Pullover!) bis zum vorläufigen Höhepunkt, der Prognose für die "Selbstabschaffung Deutschlands" (kommt 2130).
Die Länder Berliner und Brandenburg mussten es also wissen, welche Knallcharge sie da im Frühjahr 2009 in den Vorstand der Bundesbank entsandten. Sie taten es dennoch und verhalfen Sarrazin zum Aufstieg von einer lokalen zur mindestens landesweiten Bekanntheit.
Auch die gegenwärtige Debatte erhält durch die Frage, ob sein Arbeitgeber - respektive die SPD - ihn feuern sollte, einen besonderen Kick. Aber die Tickets Bundesbank oder SPD braucht Sarrazin nicht mehr; er spielt längst in der Liga derer, die dafür berühmt sind, berühmt zu sein. Als Betriebsnudel wird er den Talkshows und dem Boulevard auch erhalten bleiben.
Nicht aus Sicht der Bank, aber umso mehr aus politischer Sicht ist es nicht die klügste oder wenigstens geschickteste Idee, dem Fehler seiner Ernennung den Fehler seiner Kündigung folgen zu lassen. Als Vorstandsmitglied einer Institution, deren altehrwürdiger Name in keinem Verhältnis zu ihrer gegenwärtigen Bedeutung steht, kann Sarrazin kaum Schaden anrichten. Warum sollte er also nicht Aufgaben wahrnehmen wie zerknitterte Geldscheine aus dem Verkehr zu ziehen?
Ihn jetzt zu feuern bedeutet hingegen, ihn zum Märtyrer zu machen - zu einem quicklebendigen und gut abgefundenen natürlich, der sich, wie einige meinen, nun zu einem deutschen Wiedergänger eines Wilders oder Haiders aufschwingen könnte.
Ein Bedürfnis nach einer rechtspopulistischen Partei scheint jedenfalls vorhanden. Im Juli dieses Jahres ließ das Magazin Focus von Emnid ermitteln, dass sich jeder fünfte Deutsche vorstellen könne, eine "konservative Partei rechts der CDU" zu wählen, und castete vorsorglich schon mal das Personal: Neben Sarrazin waren mit von der Partie der Steuerrechtler Paul Kirchhof, der Philosoph Peter Sloterdijk oder der Unternehmer Hans-Olaf Henkel. Diese Leute teilen in der Tat einiges - nicht zuletzt, ihre unverhohlene Verachtung für den Pöbel. Genau deshalb spricht nichts dafür, dass einem solchen elitären Verein größerer Erfolg beschieden wäre als jenem geschätzten Dutzend rechtspopulistischer Vereinigungen, die in den letzten 15 Jahren, wie der "Bund Freier Bürger", nichtig blieben oder bestenfalls, wie die Hamburger Schill-Partei, kurz und lokal begrenzt über die fünf Prozent kamen.
Im Moment ist der Eindruck freilich ein ganz anderer: Laut einer im Auftrag des Sterns durchgeführten Forsa-Umfrage erhalten Sarrazins Befürchtungen vor "einer Überfremdung der Deutschen im eigenen Land" den meisten Zuspruch unter FDP-Wählern (66 Prozent) und Hauptschulabsolventen (68 Prozent; insgesamt sind es 46 Prozent).
Aber die Übereinkunft, die diese Zahlen nahe legen, nämlich ein Bündnis aus Stützeempfängern und Zahnärzten, dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass sich die Debatte auf das Integrationsthema konzentriert - und daran, wie sie geführt wird: Einerseits schreiben alle Medien seine Thesen hoch, drucken sie mitunter seitenweise ab und entblöden sich nicht, noch die dämlichste Behauptung einem "Faktencheck" zu unterziehen. Im selben Atemzug folgt fast ebenso kollektiv und hysterisch die Verteufelung. Aus derlei Diskrepanzen zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung - zwischen dem Elitendiskurs von Medien und Politik und dem Gespräch auf der Straße - werden Volkshelden geboren.
Aber warum offenbart sich diese Diskrepanz in derart schöner Regelmäßigkeit beim Thema Ausländer?
Vielleicht hat auch dies mit einer Selbstabschaffung zu tun. Der Selbstabschaffung des Politischen vor der Allmacht der Märkte nämlich, an der nicht einmal die größte Krise des Kapitalismus seit 80 Jahren etwas Grundlegendes ändern konnte. Jobs kommen und gehen, das regelt der Markt, da kann man nichts tun. Bei der Integration hingegen kann die Politik noch etwas ausrichten: fördern oder fordern, rausschmeißen oder ausbilden, was auch immer, irgendwas tun halt.
Und natürlich hat die Leidenschaft, mit der diese Debatte geführt wird, etwas damit zu tun, dass sich viele Urdeutsche noch immer schwer damit tun, zu akzeptieren, dass dieses Land ein Einwanderungsland ist. Dass es ihnen so schwerfällt, ist aber nicht bloße Abwehr, nicht bloß Neuauflage alter Ressentiments.
"Sind wir Schland oder Sarrazin", titelte das Berliner Boulevardblatt BZ am Mittwoch, auf die Begeisterung für das "Multi-Kulti"-Team anspielend, das bei der WM so entzückte. Die Antwort auf diese Frage: "Wir" sind beides. In dem Maße, in dem wir zu "Schland" geworden sind, "uns" also von der Illusion verabschiedet haben, die hiesigen Ausländer würden eines Tages wieder verschwinden, sind "wir" auch "Sarrazin" geworden.
Anders als noch in den Achtzigerjahren, als es um "Ausländerrückführung" ging, aber auch anders als zu Beginn der Neunziger, als Rassismus das maßgebliche Thema war, geht es heute um "Integration". Das bedeutet: Auch die Konservativen glauben nicht mehr, dass die Ausländer verschwinden werden.
Mit dieser Einsicht - und als Folge des globalen Dschihadismus - aber sind die hiesigen Türken und Araber in den Mittelpunkt eines Problemdiskurses gerückt. Dabei reicht der Katalog der Delikte von "A" wie Antisemitismus bis "Z" wie Zwangsehen und die Liste der Forderungen von "A" wie Aufklärung bis "Z" wie Zucht und Ordnung.
Aber so schrill die Diskussion oft geführt wird, ist sie nicht allein Ausdruck von Abgrenzung. Es gibt Probleme, auch spezifische, und nicht alle sind bloß mit dem Hinweis auf soziale Bedingungen zu erklären - beispielsweise nicht, dass heute Schwule in Deutschland weniger mit Übergriffen deutscher Neonazis als mit Übergriffen deutsch-türkischer oder deutsch-arabischer Jungmänner rechnen müssen. Dass Sarrazin ungewollt jenen hilft, die dies nicht wahrhaben und kein kritisches Wort zum Islam verlieren wollen, gehört auch zu den Folgen der Debatte.
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