Kolumne Das Schlagloch: Gefährliche Illusion

Der nationale Mythos in Brasilien negiert jeden Rassismus, tatsächlich aber trennt Schwarze und Weiße dort bis heute ein schlichter Glaube an Reinheit.

In der Nähe von Manaus, einer Zweimillionenstadt mitten im Regenwald, fließen der Rio Negro und der Rio Solimões zusammen. In Wirklichkeit aber weigern sich die beiden Flüsse fast, miteinander zu verschmelzen, so unterschiedlich sind sie.

Eine scharf gezogene Grenze trennt beide, und man kann mit einem Motorboot auf dieser Scheide zwischen dem schwarzen und dem weißen Wasser entlangfahren. Der pH-Wert des Rio Negro beträgt 4,5, jener des Rio Solimões 7,6; die Temperatur des Rio Negro misst 28 Grad, jene des Rio Solimões 22 Grad; der Rio Negro führt jede Menge Sand mit sich, der Rio Solimões jede Menge Schlamm und Lehm; der Rio Negro fließt mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1,5 Stundenkilometer dahin, der Solimões ist mit 4 km/h um ein Vielfaches schneller unterwegs.

Der Verlauf des Flusses zwingt das schwarze und weiße Wasser jedoch zusammen; zu Beginn teilen sie sich, getrennt dahinströmend, ein Flussbett, allmählich vermengen sie sich, verbinden sich miteinander, und kaum 15 oder 20 Kilometer später ist jede sichtbare Erinnerung an die jeweilige Eigenständigkeit getilgt. Die Wasser sind eins geworden: ein neuer Fluss, mit neuer Temperatur, Geschwindigkeit und neuem pH-Wert, der sowohl Schlamm als auch Sand mit sich führt. Von nun an heißt er offiziell Amazonas und steht sinnbildlich für die Vielfalt und den Reichtum Brasiliens.

ist Schriftsteller und Weltensammler. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Juli Zeh: "Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte" (Hanser Verlag, 2009)

Die Reise von Manaus nach Salvador da Bahia ist eine Reise vom indianischen zum afrikanischen Brasilien. In den Straßen überwiegen schwarze Gesichter (etwa 80 Prozent der Bevölkerung besitzen afrikanische Vorfahren), von den Wahlplakaten hingegen strahlen fast ausschließlich weiße Gesichter. "Der größte Mythos über Brasilien ist weiterhin, dass es hier keinen Rassismus geben soll", sagt quasi zur Begrüßung eine junge schwarze Journalistin. Man möge nicht vergessen, dass Brasilien die Sklaverei erst 1888 abgeschafft habe.

Subtile Formen der Segregation

Mit wem man in Salvador auch spricht, die Unzufriedenheit ob der mangelhaften Vertretung der Afrobrasilianer in Politik wie Wirtschaft ist groß. Zwar habe es nie eine Segregation gegeben. Aber die afrobrasilianische Minderheit, die mit mehr als vierzig Prozent Bevölkerungsanteil kaum eine Minderheit zu nennen ist, sei in jeder messbaren Hinsicht benachteiligt.

Besonders interessant sei das Verhalten der Menschen, wenn sie jemanden zum ersten Mal zu Gesicht bekämen, den sie bis dato nur vom Telefon her kannten. Da, im Gegensatz zu den USA oder Südafrika, die Schwarzen keine spezifische Sprachfärbung an den Tag legen, könne man weder von der Stimme noch vom Namen her ahnen, welche Hautfarbe ein Mensch habe. Bis zum ersten Treffen.

Das wachsende Selbstbewusstsein der Afrobrasilianer äußert sich unter anderem in der Neigung, eigene kulturelle Leistungen zur "unverfälschten Tradition" zu erklären. Ein Gläubiger erklärt mir, Candomblé sei keineswegs eine synkretistische Religion, denn die offensichtlich katholischen Elemente seien nur als Augenwischerei eingeführt worden - ansonsten hätten die Sklaven die eigene afrikanische Religion nicht ausüben dürfen. Alles Christliche daran sei somit nur Camouflage.

Katholizismus als Camouflage?

Das mag anfänglich so gewesen sein, aber es stellt sich die Frage, ob man jahrhundertelang eine Maske tragen kann, ohne von dieser Erfahrung geprägt und verändert zu werden. Wenn man in die Gesichter blickt, sieht man unzählige Vermischungen. Aber der fortwährende Rassismus verführt die Menschen, an die schlichte Illusion von Reinheit zu glauben - ein trügerischer und gefährlicher Glauben, der zudem von der wachsenden Zahl aggressiver Evangelikalen (vor allem der in Brasilien sehr mächtigen Pfingstkirche) geschürt wird.

Der Süden Brasiliens ist eindeutig der europäisch geprägte Teil des Landes. So war es keine große Überraschung, dass im Stadion von Porto Alegre kein schwarzer Spieler für die Mannschaft von Gremio auflief. Es war eine grimmige schwarze Woche für den Verein, denn der verhasste Stadtrivale Inter konnte die Copa Libertadores (so etwas wie die Champion League Lateinamerikas) für sich entscheiden, während die eigene Mannschaft auf einem Abstiegsplatz herumkrebste. Die Fans sangen kräftig gegen dieses Schicksal an: ganze Lieder mit vollständigen Strophen, nicht nur einfache Schlachtgesänge.

Eklat beim Fußballmatch

Erstaunlich waren aber die Argumente der Inter-Fans, mit denen sie mich in den Tagen danach von meiner Sympathie für Gremio abzubringen versuchten. Gremio sei ein rassistischer Klub. Man habe erst später als die anderen Klubs schwarze Spieler zugelassen. Und neulich habe der Präsident des Klubs den einzigen Schwarzen im Aufsichtsrat des Vereins beleidigt: nachdem dieser mit einigen anderen Schwarzen, die allesamt Anzüge getragen hatten, zu einem Spiel erschienen war, warf ihm der Präsident mangelndes Vertrauen vor, wenn er es inzwischen für nötig erachte, sich von Leibwächtern zu einem Spiel eskortieren zu lassen. Allerdings waren die gut angezogenen Männer, die den Aufsichtsrat begleiteten, keine Leibwächter, sondern Familienangehörige. Wahrlich, das sprach nicht für Gremio.

Am 3. Oktober wird in Brasilien gewählt, unter anderem auch ein Nachfolger für den amtierenden Präsidenten Lula da Silva. Beste Aussichten hat eine Frau, die, wie in Brasilien üblich, nur unter einem Namen firmiert, nämlich ihrem Vornamen Dilma. Ihr Nachname, Rousseff, verweist auf eine etwas ungewöhnliche Emigrationsgeschichte: Sie ist Tochter eines bulgarischen Einwanderers und ihr Name geht auf Rousse, die vielleicht kosmopolitischste Stadt Bulgariens und einst Geburtsort Elias Canettis, zurück.

Bemerkenswert ist, dass selbst unter jenen Brasilianern, die Dilma zu wählen gedenken, die meisten nichts von ihrer bulgarischen Herkunft wussten. Glücklich das Land, in dem die Herkunft eines Menschen offensichtlich keine Rolle spielt, nicht einmal bei einer Präsidentschaftskandidatin. Traurig hingegen ist, dass die Hautfarbe immer noch von solcher Bedeutung ist.

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