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Debatte DemokratieDie Arroganz der Macht

Kommentar von Georg Seesslen

In Gorleben und Stuttgart erfüllen Bürger ihre Bürgerpflicht: Sie legen offen, wie sehr der moralische Bürger von der Politik enteignet wird.

Die Polizei drängt am 30.09. Bürger, die gegen die Baumfällung für "Stuttgart 21" im Schlossgarten der Landeshauptstadt demonstrieren, zurück. Bild: dapd

R evolutionen, hieß es einst bei den Marxisten, sind die Lokomotiven der Geschichte. Oh nein, antwortete Walter Benjamin, Revolutionen sind die Notbremsen. Da geht es darum, nicht in den Abgrund zu rasen, und wehe dem Volk, das den richtigen Zeitpunkt verpasst, diese Notbremse zu ziehen.

Hat mans in kleinerer Münze als Revolte, als Einspruch, als Demonstration, als zivilen Widerstand, als öffentliche Kritik, dann sind die beiden Grundpositionen auch nicht viel anders: Geht es darum, die Demokratie demokratischer zu machen und den Kapitalismus menschlicher? Oder geht es darum, zur Notbremse zu greifen, da unser Staat - aber die Staaten in der Nachbarschaft scheinen da ganz ähnlich nicht mehr zu funktionieren - dazu übergegangen ist, seine Bürger zu enteignen und zu entmündigen?

Zeit für die Notbremse

Was in den letzten Monaten geschieht, in Frankreich, in Deutschland, in England - auch in Griechenland gibt es neue Allianzen des Widerstands -, ist in den Formen sehr unterschiedlich und in den Ursachen sehr ähnlich. Es ist offensichtlich ein Aufstand der Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte gegen eine politische Klasse, die das Volk mit einer Fernsehkamera verwechselt. Das entspricht viel eher der Benjaminschen Notbremse als dem optimistischen Lokomotiven-Bild.

Mit "Klassenkampf" hat das höchstens auf Umwegen zu tun, und noch weniger mit Ideologie. Utopie, Dogma, Geschichtsbild, Parteilichkeit, Begriffe und Theorien - all das hat seinen Führungsanspruch verloren. Für die Demonstranten in Stuttgart, in Gorleben und demnächst in Ihrer Stadt, geht es um keine historische Transzendenz. Vielmehr geht es um zwei Dinge gleichzeitig: Um "die Sache", also um einen konkreten Raum, seine Veränderung und Enteignung. Und es geht darum, die politische Entmündigung nicht auf sich beruhen zu lassen. Offensichtlich ist die Entmündigung - siehe Stuttgart - derzeit der Aspekt, der am meisten Energie und "Masse" erzeugt. Aber jeweils zeigt sich eine gar nicht so kleine persönliche Tapferkeit.

Und vielleicht ist es gerade diese Tapferkeit, die die Politiker augenblicklich so tief kränkt. Und daher greifen sie zu den ältesten und dümmsten, aber leider immer noch nicht ungefährlichen Mitteln: Sie versuchen, aus den Verteidigern Angreifer zu machen. Sie behaupten, der Griff nach der Notbremse sei das Gefährliche und nicht die Gefahr, vor der es zu bremsen gälte. Manche von ihnen würden am liebsten die Notbremsen abschaffen, wie unser Innenminister de Maizière mit einem sehr, sehr eigenwilligen Demokratieverständnis.

Nach wie vor spielt die Gewalt bei der Einschüchterung der Bürger und Bürgerinnen eine Schlüsselrolle. Provoziere Gewalt, und du kannst die Bewegung spalten und gibst deinen Lieblingsmedien das Futter für die Diskriminierungsarbeit. Es ist nur allzu deutlich, dass der Polizei-Einsatz in Stuttgart in diese Richtung zielte. Es hat hier nicht mehr geklappt, und in Gorleben schon gar nicht. Stattdessen wird die Gewalt des Staates gegen seine Bürger sichtbar, die immer wieder über das Maß hinaus geht, was eine humanistische Demokratie verträgt.

Zivile Revolte, Kritik und persönliche Tapferkeit im Widerstand sind zuförderst Symptome einer tiefen Entfremdung. Die Notbremse muss gezogen werden, weil der Staat drauf und dran ist, sein politisches Subjekt, den mündigen, freien und verantwortlichen Bürger, abzuschaffen. (Woran soll ein Staat, der der Wirtschaft gehört, sparen, wenn nicht an seinen Untertanen?) Der bürgerliche Demonstrant gegen den staatlich-ökonomischen Wahnsinn kämpft nicht nur gegen etwas, sondern auch um etwas, nämlich um sich selbst. Um seine Rechte, um seine Würde. Es ist diese Doppelstrategie von Enteignung und Entmündigung, es ist die Arroganz der Macht im Verbund mit kurzfristigen Profitinteressen, welche die Bürger auf die Straße treibt.

Das Schöne an der Demokratie ist, dass sie sich nicht als perfektes System missversteht, sondern als ein stets verbesserungswürdiges und verbesserungsfähiges. Letzteres aber ist nicht nur in der Praxis, sondern auch schon in der Rhetorik abgeschafft. Die Hoffnungen der Bürger in der Demokratie lagen auf den Selbstheilungskräften des Systems. Diese soziale Kybernetik funktioniert aber nur (schlecht und recht, aber immerhin), solange der Staat und seine Bürger sich nicht bloß formal und medial verständigen können, solange sich Politik und Gesellschaft nicht gegenseitig verachten.

Innenpolitische Kampfansage

Politiker, die das Wahl- und Steuervolk verachten und in Bürgerinnen und Bürgern allenfalls die nützlichen Idioten sehen, führen die Lokomotive zielsicher auf den Abgrund zu. Es ist Bürgerpflicht, sie zu bremsen.

Zugegeben: Ein Widerstand aus der Mitte der Bürger betrifft vor allem die Dinge, die des Bürgers sind. Es fehlt das Fieber einer Revolution mit offenem Ausgang. Es fehlt alle unvernünftige Hoffnung. Und es fehlt die Möglichkeit des radikalen Bruchs. Bürgerliche Revolutionen, wenn es so etwas gibt, haben indes stets auch allgemeinere Rechte verhandelt - bis sie, saturiert oder eingeschüchtert, zusammengebrochen sind.

Dass zu Guttenberg nun öffentlich macht, dass in Afghanistan vor allem deutsche Wirtschaftsinteressen (die Interessen der deutschen Wirtschaft) "verteidigt" werden, bedeutet auch eine innenpolitische Kampfansage. Die moralische Fraktion des Bürgertums wird von der anderen Seite, der Fraktion des ökonomischen Zynismus, noch einmal verlacht und ausgegrenzt. Eure Gutheit kotzt uns an, sagen sie und lassen die Polizei- und Medienhunde los. Auch die FAZ verhöhnt den moralischen Teil des deutschen Bürgertums: Da wehrt man sich im Feuilleton dagegen, dass alles zu Stuttgart 21 werde, "nur weil man sich einmal etwas Großes ausgedacht hat".

Politiker à la Guttenberg und seine Wahlverwandten sind bereit, in Afghanistan wie in Stuttgart Opfer für die Interessen der Wirtschaft zu bringen. Der Aufstand der moralischen Bürger hat sie, das ist nicht zu verachten, zuerst zu einer überraschenden Ehrlichkeit gezwungen. Daher: Gleichgültig, wie sie "ausgehen", die bürgerlichen Revolten haben schon jetzt für Aufklärung gesorgt: Kaum eine oder einer kann sagen, er oder sie hätten von nichts gewusst.

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23 Kommentare

 / 
  • P
    Perliopan

    Möchte mich auch uneingeschränkt den Kommentaren von tystie, Riveras und Boehmer anschließen.

     

    Es gibt heute keine Partei mehr im Bundestag, der man die Vertretung der Bürger auch nur ansatzweise abnimmt, von wenigen Einzelpersonen abgesehen.

    Wir rutschen immer tiefer ab, aber anstatt sich dagegen zu stemmen, überbieten sich die linken Parteien im allgemeinen Geseiere ohne Wirkkraft, in Allgemeinplätzen, welche im Grunde nur die eigene Unfähigkeit verschleiern soll.

    Wenn sich in diesem Land etwas zum besseren wenden soll, muss entweder das "Spitzenpersonal" der linken Parteien ausgetauscht werden, zumindest aufwachen, oder die wachen Bürger müssen sich eine eigene Protestbewegung schaffen, da insbesondere die Grünen und die Sozialdemokraten moralische Zombies sind.

  • V
    vic

    @ tystie

    Danke tystie, dem hab ich nichts hinzuzufügen.

    Hier meine Unterschrift unter deinen Beitrag:

    vic

  • E
    ekla.ignore

    Wann gabs den "mündigen, freien und verantwortlichen Bürger"?

  • F
    freidenker

    Der Ausweis heißt auf englisch Passport, also ein Papier umd eine Landesgrenze zu passieren.

     

    Auf französisch carte d'identité, also die Karte zum Nachweis der Identität.

     

    In Deutschland heißt es Personalausweis, das bedeutet, daß man zum Personal der Bundesrepublik Deutschland gehört.

  • D
    Daniel

    Krass, ich wollte den Artikel loben und habe mich schon auf reichlich Kommentargemecker (wie das sonst üblich ist) eingestellt und dann diese positive Rückmeldung :)

     

    Cool; wirklich gute Arbeit!

  • VB
    vera boehmer

    erstmal danke ich den zensoren der taz für die freischaltung der kommentare von "Carlos Riveras", "tystie" und "Rettung der Theorie"!

    außerdem unterstütze ich die forderung von "Korbinian":

    ..Die Medien stehen meines Erachtens in der Pflicht an der Notbremse mit zu ziehen..

     

    die "dreistigkeit" der politiker, die es inzwischen nicht mehr für nötig halten ihre "verfehlungen" zu vertuschen, ist fast nicht zu überbieten.

    was bedeutet sie?

    verzweiflung?

    dummheit?

    sturheit?

    oder glauben sie wirklich, sie können so weitermachen wie gewohnt, wenn landespapa den unartigen und unmündigen mal ordentlich den arsch versohlt? und was passiert, wenn (landes)väter mit gewalt "erziehen" wollen?

    gelähmte anpassung (d.h. ab der wahl im märz dasselbe in grün)

    oder aufbegehren (d.h. offene eskalation, vielleicht bürgerkrieg?)

    oder, wie schon oft in der geschichte, wenn die zeiten unruhig und das geld schlecht wird: es wird ein krieg angezettelt.

  • E
    Elke

    Uneingeschränkt ja!

     

    Dieser Artikel bringt auf den Punkt, wofür mir viel zu oft aus Wut und Frustration fehlen und aus purem Entsetzen darüber, dass wir es überhaupt soweit haben kommen lassen.

     

    Nein, keiner kann später sagen, er habe nichts gewusst. ALLE haben es gewußt oder hätten es wissen können, wenn sie gewollt hätten. Es gibt keine Entschuldigung!

  • S
    superjuchti

    Vielen Dank für Ihren Bericht es trifft die Situation.Was mich nur etwas aufregt sind einige Leserbriefschreiber die meinen sie kennen den Stuttgarter Widerstand.Sie haben ein völlig falsches Bild vom Stuttgarter Widerstand und vom Schwaben.Wenn der Schwabe sich verarscht fühlt dann wird er sehr schnell zum Schwabist und gibt nicht auf (Furchtlos und treu).Wenn wir warm werden wirds sehr heiss und revolutionär.

    Wir sind keine WOHLSTANDSDEMONSTRANTEN das können wohl manche nicht verstehn!!! Wir haben satt das irgendwelche Schlaumeier ausserhalb immer wissen ohne dabei zu sein wer und wie wir sind.

     

    Auf schwäbisch gesagt mir könnet des dumme gschwätz nemme höra

     

    oben bleiben

    grüsse aus Stuttgart

  • MG
    Micki Grünspecht

    Das VOLKSVETO, d.h. ein "nur" gesetzTILGENDER (sei es ganz oder teilweise), nicht auch gesetzGEBENDER Volksentscheid (ähnlich wie, aber besser als gemäß Art.75 der italienischen Verfassung) wäre eine viel harmlosere und viel demokratischere NOTBREMSE als irgendeine Revolution ! Warum gibt es das nur in Italien (und schon 1831 im schweizerischen St.Gallen, siehe Wikipedia "Kanton St. Gallen), aber nicht bei uns in der BRD ?

  • M
    Mathematiker

    Haaaallo Sinah :)

  • TG
    this guy from London

    Vielen Dank fuer diesen Artikel. Und auch wenn man sich in London Hoffnung macht, dass die neuen Proteste revolutionaeres Potential haben koennten, so teile ich eher deine Analyse. Die neuerlichen Proteste in Stuttgart und London sind Proteste des Gutbuergers, die die Politiker nicht einfach kriminalisieren koennen. Wenn die Politiker jedoch tatsaechlich diesen Weg waehlen, oeffnen sie damit die Tuer fuer tatsaechliche revolutionaere Bewegungen (die sich im Mantel des Gutbuergerprotest entwickeln koennen).

  • J
    Jose

    Der Artikel ist aus der Seele des normalen Bürgers gesprochen.

    Stop Castor

    Stop S21

    Stop Volksverarschung!

  • J
    J.G.L.

    Danke Herr Seeslen,

     

    für diese treffende Analyse! Aber an solchen Elendsberichten mangelt es ja eigentlich nicht.

     

    Die gut informierten Leser kennen sicher auch schon die anderen Essyas der Qualitätspresse, mit etwa der gleichen Aussage.

     

    Wieder andere lesen wahrscheinlich nur Werbebroschüren oder ähnliches - ich kann da nur Vermutungen anstellen - sie werden nicht erreicht und zum Nachdenken gebracht. Es ist grad' zum Verzweifeln.

     

    Ob es auch CDU/FDP Politiker gibt, die die taz lesen? Man informiert sich ja doch selektiv und so weiß ich auch nicht, was in der BILD steht.

     

    Ich fürchte also, Ihr Artikel kommt bei 'denen da oben' nicht an.

     

    Die Frage ist jetzt, wie kommen wir ganz konkret weiter und überwinden diese unsoziale und abgehobene Politik.

  • F
    FJW

    Klasse auf den Punkt gebracht. Hoffentlich lesen u. verstehen die niederen Handlanger der Macht (Polizei) diesen auch.

  • CR
    Carlos Riveras

    blöder Artikel, der völlig undifferenziert verschiedene Bewegungen durcheinander wirft.

    Wenn das deutsche Bildungsbürgertum, GrünenwählerInnen und Gutverdiener in Stuttgart sich Scharmützel mit der Polizei liefern, und von dieser mit brachialer Gewalt angegangen werden, dann hat das bis auf die Polizeigewalt mit den Aufständen in Frankreich geschwegedenn mit denen in Griechenland nichts mit einander zu tun.

     

    In Frankreich waren es Arbeiter und Arbeiterinneb, Beschäftigte aus diversen Branchen sowie Studierende und SchülerInnen die auf die Strasse gingen um gegen eine massive Kürzungswelle vorzugehen, mit denen der Staat die letzten sozialen Absicherungen über Bord wirft.

     

    In Deutschland konnte in der gleichen Zeit ein Sozialabbau sowie eine unsoziale Gesundheitsreform vollzogen werden die zugleicht den Start in ein 3 Klassen Gesundheitssystem und eine prekäre Zukunft für Millionen darstellt.

     

    Protest dagegen suchte man vergebens, bis auf ein paar kaum nennenswerte Demonstrationen

    Und wenn, dann kam dieser Protest von Gewerkschaften oder vereinzelten und vollkommen isolierten Linksradikalen, von einer Protestbewegung die der in Frankreich nahe kommen würde weit und breit nichts zu sehen.

     

    Das hier im Artikel hochgelobte Bügertum in Deutschland kümmert sich einen Dreck darum, wen wundert´s`??

    Nein, in Stuttgart gehts um eine vergleichsweise Lapalie (wenn auch unterstützenswert), die mit dem Anliegen der Protestierdenden in der BRD nicht vergleichbar ist.

     

    Hier wird vielmehr der "deutsche Standort" zum höchsten aller Gefühle erklärt und sein Wohlergehen in stillschweigendem Gehorsam über alle Einschnitte und Verschlechtertungen der Lebensverhältnisse vieler Menschen gestellt.

     

     

    Noch weniger ist die Situation in Deutschland mit der in Griechenland vergleichbar, wo seit 2008 regelmäßig massenbetragende Revolten und Aufstände die gesellschaft beleben.

    Der Protest und die Kritik die dort zwischen Demonstrationen und Barrikaden artikuliert wird mag vielleicht heterogen sein, allerdings eint sie der soziale Aspekt und der Wille nach einer sozialverträglichen Politik die die Interessen der Menschen, besonders derer die sowieso einen Dreck bekommen, bewahrt.

     

    Gorleben ist noch ein anderes Kapitel, das zwangsläufig umfangreicher sein muss und den Fokus auf die Motivationen und Forderungen der überaus heterogenen Bewegung dort berücksichtigen mag.

     

    Eine Vereinfachung als euphemistischer Blick auf die trostlose Situation in Deutschland nicht nur in bezug auf die sozialen Proteste wird keinem der Phänomene gerecht und ähnelt einem hilflosen Versuch sich die Realität schönzureden.

  • T
    tystie

    Netter, trendiger Versuch, leider daneben.

    'Demokratie' hat eine präzise Bedeutung: 'Volksherrschaft'. Punkt. Das ist kein Relativum („Demokratie demokratischer machen“), sondern ein Absolutum. Entweder hat das Volk die Macht oder nicht. Wenn es sie nicht hat, dann IST es eben KEINE Demokratie, und wenn man es trotzdem so nennt, dann ist das Etikettenschwindel.

    Gegenwärtig wird die BRD von 332 Abgeordneten der CDU, FDP und CSU beherrscht. Darin sind alle Regierungsmitglieder enthalten. Sie haben die Parlamentsmehrheit, die sie in die Lage versetzt, Laufzeitverlängerungen zu beschließen und den Bundesrat mit einigen Dutzend mehr Machthabern auszuschalten. Deren ganze Macht beruht nun wiederum in der Hoffnung auf 1 Stück Bundespräsident und 8 Stück Verfassungsrichter. Dieses nicht einmal halbe Tausend Menschen reicht aus, einer Bevölkerung von knapp 82.000.000 Menschen das Risiko der radioaktiven Verseuchung aufzuzwingen, die 'kommenden Generationen' noch gar nicht mitgerechnet. Platon kannte auch dafür einen Begriff: 'Oligarchie' - Herrschaft einer kleinen Gruppe. Punkt. Und eine Oligarchie ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Gruppenmitglieder mehr oder weniger alle vier Jahre durch eine Wahl bestimmt werden, zu der von vornherein nur drei Viertel der Bevölkerung zugelassen sind.

    Glauben wir den Parteibonzen, dann haben die Delegierten der CDU in Kürze das Privileg, die künftige Politik in Deutschland zu bestimmen. Durch Abstimmung - aber nicht demokratisch. Denn Demokratie heißt nicht Abstimmung. Und die CDU-Delegierten sind nicht das Volk.

    Genau diese oligarchische Verfassung Deutschlands war schon der Hebel, mit dem die Nazis übernehmen konnten. Wer die Mehrheit im Reichstag, in dem heute sinnigerweise wieder getagt wird hat, hat die Macht. So einfach ist das in Deutschland. Und das Volk schaut wieder einmal ziemlich belämmert aus. Und wird mit Beiträgen über 'humanistische Demokratie' vollgesültz.

    Wie geht das noch im Märchen? Niemand wagt auszusprechen, dass der Kaiser nackt ist. Nennen wir die Dinge einfach beim Namen, dann werden sie glasklar erkennbar!

  • B
    breuer

    Vergessen wir bitte nicht, dass am vergangenem Wochenende durchschnittlich mehr Bürger in einem Bundesligastadion waren als bei Stuttgart 21 oder in Gorleben. Soweit zu den Mehrheitsverhältnissen.

    Vergessen wir bitte auch nicht, dass unsere Bürger nicht vom Juchtenkäfer leben, sondern von wirtschaftlicher Innovation.

    Vergessen wir nicht, dass das Weißbuch 2005 durchaus den Einsatz unserer Strteitkräfte zur Offenhaltung der Seehandelswege beschreibt. Dieses Buch darf man wohl noch zitieren dürfen.

     

    Den vielen Pensionären und Rentnern, die man im TV protestieren sieht, sage ich (auch Rentner): wir gestalten nicht die Zukunft, sollten der Zukunft auch nicht im Wege stehen. Für mich ist Stuttgart 21 Zukunft für meine Enkelkinder.

     

    Ich hoffe, dass sich Widerstand gegen alle - entschuldigen sie bitte diesen Ausdruck - Empathiefundeamentalisten, die ihre angebliche Deutungshoheit teilweise brutal durchsetzen wollen, formiert. Ich würde nach 40 Jahren wieder auf die Straße gehen.

  • M
    mia

    Vielen Dank an Georg Seesslen für seine klaren und durchdachten Worte! Und vielen Dank an die taz für die Veröffentlichung! Überhaupt einmal Danke für ihre engagierte, tägliche Berichterstattung zu diesem Thema! Und bitte dran bleiben; bei S21 wird so wunderbar evident, woran 'das Alles' liegt und was also zu ändern wäre...

  • RD
    Rettung der Theorie

    Ich finde ja den Artikel ein wenig generalisierend und verfaelschend. Selten haben sich Menschen zum politischen Kampf entschieden, weil sie ein Leben gefuehrt haben wie sie es immer gekannt hatten und dann aufeinmal ueberzeugt wurden es muesse sich etwas aendern. Eher waren es Antworten auf Veraenderungen und einer marxistische Theorie, die ja kaum zu bestreiten eine materialistische ist, zu unterstellen sie baue auf die Macht von Ideen, die die Menschen zur Veraenderung antreibt, ist meines Erachtens eine Verleumdung.

     

    Die Idee marxistischer/linker Theorie ist doch eher, dass sie versucht konkrete Ereignisse in einen Zusammenhang zu setzen und zu erklaeren wie diese aus dem kapitalistischen Normalvollzug erwachsen. Das kapitalistische System mit seinen Widerspruechen ist immer wieder auf scheinbar nicht-kapitalistische Inventionen angewiesen und es ist immer eine Frage der Kraefteverhealtnisse ob diese das System stabilisieren oder aber ueber dieses hinausweisen. "Revolten" die den Zusammenhang nicht sehen werden das jetzige System also stabilisieren und nicht verhindern, das die Ereignisse gegen die gekaempft wird erneut aufflammen, weil sie einfach zum "normalen" funktionieren dazugehoeren.

     

    Weiterhin kann mensch wohl ganz richtig behaupten, dass es sich um eine buergerliche Revolution handelt, die Frage ist aber doch ob es Kapitalisten (im Marxschen Sinne) sind, die hier demonstrieren und das wohl eher nicht. Koennen also Arbeiter_innen buergleiche Werte haben. Ich denke ja und die meisten die hier demonstrieren arbeiten ja wohl fuer Lohn. Linke Organisationen haben immer wieder dafuer plaediert in den alltaeglichen Kaempfen mitzuwirken um eben gerade die Kaempfenden von ihrer Macht zu ueberzeugen und Erklaerung fuer die Umstaende gegen die gekaempft wird anzubieten und damit eben gerade ueber dieses buergeliche Bewusstsein hinauszukommen.

     

    Der Arteikel beschreibt die momentanen Ereignisse irgendwie als neu, aber nicht nur erwachsen sie aus einem neoliebral gepraegten kapitalistischen System sondern die Kaempfe selbst wurden schon oft gefuehrt, gerade in Frankreich! Interessanter ist doch, wie geht es weiter, bleiben die Kaempfe vor allem in Deutschland so wie sie sind, werden sie wohl kaum signifikant etwas veraendern. Gelingt es den Kaempfenden die eiunzelnen Ereignisse gerade nicht als einzelne zu sehen kann sich etwas veraendern. Die meisten sogenannten Buergerrechtsbewegungen hatten ja nicht erfolg, weil sie nur buergerlich waren, sondern weil es radikalere Elemente gab, die durch massive Streiks (z.B. in den USA) den Status quo so gefaehrdet haben, das Zugestaendnisse gemacht werden mussten. Sicherlich die radikaleren Elemnte mussten irgendwie Anschluss an die buergerlichen finden, aber allein die buergerlichen Elemente haetten wohl kaum etwas veraendert

  • D
    Dschallmar

    Bin auch relativ überrascht über einen so kritischen und vor allen Dingen langen Artikel. Wird Zeit, dass die taz ihre alte Leserbelegschaft mit genau solchen Artikeln wieder ins Boot holt.

    Zudem fand ich ihn ziemlich mutig, da es nicht sehr leicht ist, den Zeitgeist einer Nation richtig zu treffen. Was auch nicht unbedingt in allen Fällen funktioniert hat, doch es ist ein guter Anfang.

  • KD
    Karl der Juchtenkäfer

    Danke für diesen Super Artikel !

  • K
    Korbinian

    Klasse Artikel..Selten einen so treffenden Beitrag in einem bundesweiten Blatt gelesen...Bitte mehr davon..Die Medien stehen meines Erachtens in der Pflicht an der Notbremse mit zu ziehen. Und nicht wie bei den meisten, die Menschen zu lähmen und von jeglichen gesellschaftlichen Entwicklungen usw. abzulenken.

  • K
    Korbinian

    Klasse Artikel..Selten einen so treffenden Beitrag in einem bundesweiten Blatt gelesen...Bitte mehr davon..Die Medien stehen meines Erachtens in der Pflicht an der Notbremse mit zu ziehen. Und nicht wie bei den meisten, die Menschen zu lähmen und von jeglichen gesellschaftlichen Entwicklungen usw. abzulenken.