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Cholera und WahlenHaiti hofft auf Sweet Micky

Mindestens 70.000 Menschen sind krank. Auch zehn Monate nach dem Erdbeben ist die Hauptstadt weiterhin Katastrophengebiet. Am Sonntag wird einer neuer Präsident gewählt.

Ein Fan von Präsidentschaftskandidat Michel Martelly. Bild: dapd

PORT-AU-PRINCE taz | "Ach was", sagt Darline: "die hatten ein paar Mikroben. Das war keine Cholera." Die 24-jährige zierliche Frau lebt mit ihren drei kleinen Kindern, mit ihren drei Geschwistern und mit ihren Eltern auf der Place Boyer. Das graue Zelt ihrer Familie ist nur ein paar Meter von dem gleichfarbigen Zelt entfernt, aus dem am Sonntag eine neunköpfige Familie evakuiert worden ist.

Vater Toutpuissant, seine Frau und ihre sieben Kinder, inklusive des im Oktober zur Welt gekommenen Babys, waren die ersten Cholerafälle dieses Lagers. Am Sonntag bekamen sie Magenkrämpfe und Durchfall und Erbrechen. Ein Kind war bereits bewusstlos, als Nachbarn die Familie in das Universitätskrankenhaus von Haiti brachten. In einem TapTap - einem Kollektivtaxi. Die Krankenwagenfahrer hatten den Transport abgelehnt. Begründung: Sie hätten anderswo zu tun.

Die 24-jährige Darline arbeitet als Kosmetikerin in einem Schönheitssalon. Aber an diesem Nachmittag erledigt sie Haushaltsarbeit vor dem igluförmigen Zelt ihrer Familie. Ihr viereckiges Plastikbecken mit dem Spülwasser hat sie auf einer steinernen Bank abgestellt. In besseren Zeiten war die Bank ein Treffpunkt für Verliebte. Direkt neben Darline schrubbt eine Frau ein Kinderkleidchen in einem Bottich, der auf der Bank steht. Wieder eine halbe Armlänge weiter schneidet eine andere Frau einem Kind die Haare.

Es ist ein Zusammenleben auf engstem Raum. Die Zelte der drei Frauen und ihrer Familien stehen dicht an dicht nebeneinander. Auf Kopfhöhe sind Wäscheleinen gezogen, auf denen Kinderkleider und Unterwäsche trocknen. Noch etwas weiter oben sind große, dunkelblaue Planen über den Zelten gespannt. In der Regenzeit haben sie ein wenig zusätzlichen Schutz geboten.

Die Wahlen

Kandidaten: Zu den Präsidentschaftswahlen am Sonntag treten insgesamt 19 Kandidaten an. Favoritin ist die 70-jährige Mirlande Maginat, gefolgt von dem von der bisherigen Regierung des Präsidenten René Préval unterstützten Jude Celestin, 48, und dem Musiker und Anti-Establishment-Kandidaten Michel "Sweet Micky" Martelly, 49.

Parlament: Neben dem Präsidenten werden alle Abgeordneten und ein Drittel des Senats neu gewählt. Wahlberechtigt sind rund 4,7 Millionen HaitianerInnen.

Logistik: Die Organisation Amerikanischer Staaten hat die Wahlen federführend organisiert, 29 Millionen Dollar sind aus dem Ausland geflossen. Die Wahlen wurden anberaumt, als die bisherige Regierung wegen ihrer Untätigkeit nach dem Erdbeben im Januar immer mehr unter Druck geriet.

Termin: Wegen der schwierigen logistischen Situation waren in der vergangenen Woche Forderungen laut geworden, den Wahltermin zu verschieben. Wenn bei den Wahlen am Sonntag kein Kandidat eine absolute Mehrheit erhält, kommt es zu einer Stichwahl im Januar.

Seit zehn Monaten hausen 1.500 Familien auf der Place de Boyer im Quartier Petionville von Port-au-Prince. Am 12. Januar sind ihre Wohnungen und Häuser verschwunden. "Zerschmettert", sagt Darline. Seither lebt die Familie in dem Provisorium. Und wartet auf etwas, an das Darline eigentlich gar nicht glaubt.

"In Haiti gibt es das, was zu einem normalen Leben nötig ist, nicht", meint sie: "Arbeit, Geld und eine Betreuung." Auf der Außenseite ihres Zeltes klemmt das pinkfarbene Poster von "Sweet Micky", dem Kompas-Sänger, der Präsident von Haiti werden will. Der 49-jährige Kandidat, der bis zum vergangenen Sommer der populärste haitianische Musiker war und auf der Bühne auch schon mal seine Hosen heruntergelassen hat, bewirbt sich auf dem Poster mit seinem bürgerlichen Namen Michel Martelly und trägt einen Designeranzug mit Krawatte. An sein altes Image erinnert nur der kahl geschorene Kopf.

In der Zeltstadt hängt beißender Geruch. Er weht von den Toilettenkabinen herüber, die an einer Außenseite des Platzes aufgestellt sind. "Gade twalet pwop" ist auf Kreolisch auf die Wand einer Toilette geschrieben: Haltet die Toiletten sauber. Dichte Fliegenschwärme belagern die Kabinen. Vor der Evakuierung der cholerakranken Familie waren sie tagelang nicht geleert worden.

Stinkende Plastikburgen

Das Lager ist eine von 1.000 Zeltstädten in der haitianischen Hauptstadt, die zehn Monate nach dem Erdbeben weiterhin ein Katastrophengebiet ist. Die Zeltstädte sind überall aus dem aufgerissenen und aufgeplatzten Boden geschossen: auf öffentlichen Plätzen, auf den Mittelstreifen der Ausfallstraßen, am Ende von Sackgassen.

Seit 10 Monaten schon lebt Darline mit ihrer Familie im Zelt. Bild: dorothea hahn

Es sind stinkende Plastikburgen, dicht besiedelte Inseln des Elends. Weder gibt es fließendes Wasser noch Elektrizität noch Sicherheit, die von gemauerten Wänden ausgeht und von Türen, die man schließen kann. Eine halbe Million Hauptstadtbewohner lebt in Zelten. Im ganzen Land sind es 1,5 Millionen Menschen.

Die Place de Boyer ist nur wenige Schritte von dem früheren Kaufhaus entfernt, in dem jetzt die zentrale Wahlkommission residiert. Davor wacht ein Mann mit Gewehr neben einer Kordel, die die Straße absperrt. Zu seinen Füßen hockt eine Frau und schöpft Wasser aus der Gosse in einen Plastikkanister.

Die Wahlkommission ist für die Organisation der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zuständig. Unter anderem hat sie 19 Präsidentschaftskandidaten zugelassen und 14 abgelehnt. Sie hat auch die 1.500 Wahllokale ausgewählt. Und sie hätte eigentlich auch die Wählerlisten aktualisieren müssen. Doch viele der rund 250.000 Menschen, die bei dem Erdbeben ums Leben gekommen sind, stehen weiterhin in den Wählerlisten.

In Verzug geraten ist auch die Ausgabe von Wählerkarten. Vier Tage vor den Wahlen bilden sich vor den Ausgabestellen in Port-au-Prince lange Schlangen, aus denen Wartende nach mehren Stunden unverrichteter Dinge abziehen müssen. "Es wird überall Betrug geben", sind unabhängige Wahlbeobachter überzeugt.

Haiti ist das ärmste Land der nördlichen Hemisphäre. 80 Prozent der Erwachsenen sind arbeitslos. Das jährliche Durchschnittseinkommen liegt bei 400 US-Dollar. Die Infrastruktur ist ein Dauerproblem, und die Regierungen in Port-au-Prince fallen nicht dadurch auf, dass sie die Lage ihrer Landsleute verbessern.

In Washington und Brüssel galt Haiti schon lange vor dem vergangenen Januar als "versagender Staat". Nach dem Beben haben sich 10.000 Nichtregierungsorganisationen in dem Land eingerichtet. Auch die großen internationalen Organisationen wie UNO, Weltbank und EU haben ihre Präsenz erheblich verstärkt. Neben ihrer Organisation und ihrer Logistik nimmt sich der scheidende haitianische Präsident René Préval, der seit dem Einsturz seines weißen Palastes in einem klimatisierten Zelt präsidiert, bescheiden aus.

Nach dem Erdbeben im Januar und nach dem tropischen Sturm "Tomas" im Sommer, ist die Choleraepidemie die jüngste Katastrophe in Haiti. Hilfsorganisationen äußerten schon in den ersten Tagen nach dem Beben ihre Besorgnis, dass es Cholera geben würde. Im Oktober brach sie aus.

Wenn sie schnell behandelt wird, ist die Krankheit heilbar. Aber in Haiti, mit seinem Mangel an Hygiene, Krankenstationen, Medikamenten und Personal forderte sie schnell Todesopfer unter den ausgemergelten Menschen. Am Wahltag dürfte die Zahl von 2.000 Toten überschritten sein.

Hilfsorganisationen befürchten, dass die bislang erfassten rund 70.000 Cholerakranken erst der Anfang sind. International Medical Corps erwartet, dass die Cholera rund 400.000 Menschen in Haiti befallen wird.

Neue politische Gewalt

In der nördlichen Provinz Artibonite hat die Epidemie bereits zu neue politischer Gewalt geführt. Als durchsickerte, dass die Epidemie möglicherweise von UN-Blauhelmsoldaten aus Nepal eingeschleppt wurde, kam es zu Demonstrationen gegen die UNO. Mehrere Menschen kamen ums Leben.

Gleichzeitig verlangten vier "kleinere" Präsidentschaftskandidaten in der Hauptstadt die Verschiebung der Wahlen wegen der Epidemie. Doch die haitianische Regierung, ebenso wie die aussichtsreicheren "großen" Kandidaten, sämtliche internationalen Organisationen und zahlreiche nationale Botschaften - allen voran die US-amerikanische - bestanden auf der Einhaltung des Wahltermins.

Wegen gewalttätiger Ausschreitungen hat es in Haiti immer wieder Absagen von Wahlterminen gegeben, auch noch am Wahltag. Aber am Donnerstag erklärte ein Mitarbeiter der Wahlkommission in Port au Prince kategorisch: "Selbstverständlich finden die Wahlen statt."

"Nach jeder Toilettenbenutzung Hände waschen und Trinkwasser reinigen", tönt es von einem Lautsprecherwagen, der täglich rund um die Zeltstädte von Port-au-Prince fährt. Das ist einfacher gesagt als getan, wenn es keine Waschbecken gibt und wenn die Hilfsorganisationen nur unregelmäßig kommen und "Aquatables" verteilen.

Die Familie von Darline benötigt täglich ein Röhrchen des Wasserreinigungsmittels. Es zu kaufen, fehlt das Geld, zumal allein die Einschreibung in die Schule für ihren jüngeren Bruder 1.200 Dollar kostet. Hinzu kommen monatliche Gebühren. Der 16-jährige Roosevelt kann nur Kreolisch sprechen. Aber in der Schule sitzt er vor Büchern, die ausnahmslos in Französisch verfasst sind. Er kann sie lesen, aber nur in seiner eigenen Sprache schreiben. Dieses Schicksal teilt er mit den meisten haitianischen Kindern und Jugendlichen.

"Die Leute glauben, dass sie ein Haus geschenkt bekommen, wenn sie nur lange genug im Zelt aushalten", sagt Frantz Duval, der 45-jährige Chefredakteur der Zeitung Nouvelliste. Im Januar ist seine Redaktion aus dem Stadtzentrum von Port-au-Prince in einen Hinterhof in Pitionville umgezogen.

Auf dem Stellplatz von zwei Jeeps hat sie ein kleines Redaktionshäuschen aus Pressspan gebaut. Aber darin ist nicht einmal genug Platz für die Hälfte der Redaktion. Die meisten Journalisten des Nouvelliste schreiben unter freiem Himmel. Der Chef hat sein Büro an einem kleinen Mäuerchen. "Open space" nennt er es.

"Jetzt werden sie gleich Geld verteilen", freut sich ein Junge, der am Donnerstag am Rand der Zeltstadt auf der Place de Boyer auf den Kandidaten Sweet Micky wartet. Doch statt der erwarteten Geldscheine gibt es bloß pinkfarbene und weiße T-Shirts, auf denen neben dem rosa Bild von Sweet Micky auch ein Stier mit der Aufschrift "Repons Peyizan" prangt: Bauernantwort.

Der Demonstrationszug in Weiß und Pink setzt sich schnell in Bewegung in Richtung Innenstadt. Jugendliche singen Schlager, mit denen ihr Präsidentschaftskandidat berühmt geworden ist. "Wir sind hier nicht wegen des Geldes, sondern aus Überzeugung", schallt es aus dem Demonstrationszug. Am Straßenrand, zwischen Trümmerhaufen und den wenigen wiederaufgebauten Häusern, stehen mehrere Reihen von Zaungästen. Sie staunen ungläubig.

Auch Darline wird am Sonntag für Sweet Micky stimmen. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, als sie das sagt: "Er ist ehrlich, er versteht uns und er kann uns helfen."

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