Montagsinterview mit Boxtrainerin Sarah Bitterling: "Ein Boxkampf ist wie ein Tanz"
Manche Mädchen tragen Kopftuch, einige wollen lernen, sich zu verteidigen, und alle wollen Spaß haben, wenn sie zu Sarah Bitterling in die Halle kommen. Die Trainerin der Boxgirls, des größten Frauenboxclubs Europas, bringt ihnen bei, sich im Ring und im Leben durchzuboxen.
taz: Frau Bitterling, was macht eine gute Boxerin aus?
Sarah Bitterling: Eine gute Boxerin geht immer an ihre Grenzen. Sie kann sich und ihre Emotionen kontrollieren und entwickelt schnell eine Taktik, mit der sie ihre Gegnerin besiegen kann. Mit den Mädchen, die ich trainiere, gibt es den Ehrenkodex, dass sie die Boxtechniken nur in der Halle, also nur in einem sportlichen Kontext anwenden dürfen.
Die Berlinerin: Sarah Bitterling wurde 1979 in Charlottenburg geboren und ist in Schöneberg und Steglitz aufgewachsen. Seit zehn Jahren lebt sie in Neukölln.
Die Sozialarbeiterin: Die gelernte Erzieherin hat zwei Jahre an einer Schöneberger Grundschule gearbeitet, an der sie auch Selbstbehauptungskurse angeboten hat. Jetzt studiert sie Soziale Arbeit und arbeitet als Betreuerin einer Mädchenwohngruppe.
Die Boxerin: 2002 hat Bitterling in Kreuzberg mit dem Boxtraining angefangen, seit sechs Jahren unterrichtet sie. Bereits bei 350 Wettkämpfen hat sie als Berlins einzige amtierende Punkt- und Ringrichterin über Sieg und Niederlage entschieden. Geboxt wird anders als im Profiboxen mit Kopf- und Mundschutz, die Frauen über vier Runden à zwei Minuten, bei den Mädchen sind es drei Runden.
Die Boxgirls: Der Verein ist mit rund hundert Mitgliedern der größte Frauenboxclub Europas. Das Engagement geht über das Boxen hinaus: Es gibt Medienschulungen, Erste-Hilfe-Kurse und Workshops zu Themen wie Sicherheit und Genderrollen in der Berufswelt. In der Kreuzberger Halle trainieren Mädchen aus einkommensschwachen Familien, denen das Training durch ein soziales Preissystem ermöglicht wird, genauso wie weibliche Führungskräfte dort das Durchboxen im Arbeitsleben lernen. Für ihr Engagement wurden die Boxgirls mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, in diesem Jahr im Rahmen des Wettbewerbs "Startsocial" mit dem Sonderpreis der Bundeskanzlerin. Inzwischen gibt es die Boxgirls auch in Kenia und Südafrika. Mehr unter www.boxgirls.org.
Aber wollen Mädchen und Frauen nicht auch boxen lernen, um sich zu verteidigen?
Ja, auch, aber selbst im Ernstfall auf der Straße plädiere ich immer fürs Ausweichen.
Genügt das immer?
Wenn natürlich jemand bereits in deiner Boxdistanz steht und es dann wirklich ein ernster Verteidigungsfall ist, kann gerade bei Männern auch mal zugetreten werden - aber das sind absolute Ausnahmen. Die Mädchen und Frauen lernen durch das Boxtraining, Gefahrensituationen im Alltag viel früher zu erkennen, und gehen durch mehr Kondition, körperliche und psychische Stärke selbstbewusster und vielleicht auch weniger angreifbar durchs Leben.
Sie sagen, eine Boxerin muss Emotionen kontrollieren. Aber ist nicht gerade Boxen ein hoch emotionaler Sport, bei dem viel rausgelassen wird?
Ja, am Boxsack können Emotionen rausgelassen werden. Nicht aber im Ring. Dort müssen Emotionen kontrolliert werden, um besser reagieren zu können. Wenn ich einen Treffer einstecke, kann ich mich darüber nicht lange ärgern und somit selbst blockieren, sondern muss einen verlorenen Punkt hinnehmen und ihn mir zurückholen; ich muss gleich wieder handeln und darf nicht passiv werden. Entgegen dem veralteten Klischee sind Frauen oft kontrollierter im Ring als Männer. Männer sind emotionaler, werden bei Niederlagen schon mal aggressiv und boxen dann unkontrollierter.
Sie sind Trainerin bei den Boxgirls, einem Kreuzberger Frauenboxclub, der Boxen für die Sozialarbeit einsetzt, dafür viele Preise gewonnen hat und dadurch relativ bekannt wurde. Nervt es nicht, immer wieder zu erklären, dass Boxen auch ein Sport für Frauen ist?
Wenn es die Fragen immer noch gibt, spreche ich gerne darüber, dass Boxen für Frauen und Mädchen gleichwertig anzusehen ist. Einige haben immer noch Bedenken, dass der Boxsport zu hart ist für Frauen. Dadurch, dass der Boxsport derzeit sehr populär ist und gesehen wird, dass er für die Sozialarbeit taugt, wird jedoch auch das Frauenboxen akzeptierter und normaler. Außerdem wächst jetzt eine Mädchengeneration heran, die sich selbstverständlicher nimmt, was sie braucht, als noch vor acht Jahren, als ich angefangen habe.
Wie kamen Sie zum Boxen?
Ich habe alle möglichen Sportarten ausprobiert: Hockey, Tennis, Judo. Dann habe ich Partnerakrobatik gemacht, was mir auch viel Spaß gemacht hat. Trotzdem war ich nie ausgelastet: Ich konnte schlecht einschlafen, weil ich abends noch viel Energie hatte. Wie viele Frauen habe auch ich Gewalterfahrungen gemacht: Ich wurde von einem Mann auf der Straße ohne Grund bewusstlos geschlagen. Das war eine sehr heftige Erfahrung. Kurz darauf hat mich eine Freundin mit in die Boxhalle genommen. Der Boxclub war damals noch klein mit zehn, fünfzehn Frauen am Mariannenplatz in Kreuzberg.
Das heißt, Sie haben angefangen, um sich zu verteidigen?
Auch. Aber ich konnte mich vor allem richtig auspowern. Und es ist die Taktik, die ich an dem Sport spannend finde: Du lernst im Ring die Gegnerin kennen und versuchst blitzschnell, ihre Schwächen rauszufinden.
Halten Sie sich selbst für eine gute Boxerin?
Manche Leute sagen, ich bin eine gute Boxerin.
Wo liegen Ihre Stärken?
Im Boxring?
Ja, im Ring.
Ich boxe auf eine sehr spielerische Art, deshalb sind Gegnerinnen oft genervt von mir. Ich provoziere sie zu schlagen, gehe dann mit einem Konter, also mit einem Gegenschlag rein und bin wieder weg, bevor sie sich einen Punkt zurückholen können.
Verraten Sie, wo Ihre Schwächen liegen?
Meinen Sie jetzt im Ring oder generell?
Kann man das trennen?
Teilweise kann ich da Parallelen ziehen. Ich konnte zum Beispiel am Anfang schlecht mit Treffern der Gegnerin umgehen.
Das heißt, Sie sind wütend geworden?
Wut ist das nicht, eher Enttäuschung, wenn ich einen Treffer einstecken musste, einen Rückschlag hinnehmen - das konnte ich früher auch außerhalb des Rings schlecht.
Boxen gilt als brutaler Sport …
Ja, das immergleiche Bild vom Boxer mit gebrochenem Kiefer, gebrochener Nase und zugeschwollenen Augen! Natürlich ist Boxen anders als Badminton ein Sport, bei dem durch Treffen des Gegners oder der Gegnerin gepunktet wird. Es wird aber oft vergessen, dass es einen Unterschied zwischen dem Profi- und dem Amateurboxsport gibt: Beim Amateurboxen wird der Kampf abgebrochen, bevor es eine ernsthafte Verletzung gibt. Boxen kann ein sehr ästhetischer Sport sein.
Was ist das Ästhetische für Sie?
Es ist ein Ganzkörpersport, bei dem alle Bewegungen im Fluss sind. Ein Boxkampf ist wie ein Tanz. Jede Boxerin hat ihren ganz eigenen Stil, und die Bewegungen gleichen sich nicht. Aber im Unterschied zum Tanzen sollte eine Boxerin sich nicht komplett auf den Rhythmus der Gegnerin einlassen, sondern ihren eigenen Tanz tanzen und versuchen, die andere aus dem Rhythmus zu bringen, sie zu verunsichern.
Der Frauenboxclub ist in Kreuzberg. Würden Sie auch einen Club in Stadtteilen mit bessergestellten Familien wie Charlottenburg aufmachen?
Unser Konzept ist es, Angebote in sozialen Brennpunkten anzubieten, also dort, wo Sozialarbeit dringend gebraucht wird. In Kreuzberg und Neukölln sind wir so für die meisten gut zu erreichen, auch wenn einige wenige aus anderen Bezirken kommen. Wenn Charlottenburg jedoch noch eine Halle frei hat und uns die Mittel zur Verfügung stünden, warum nicht?
Ihr Boxtraining ist Sozialarbeit, sie studieren Soziale Arbeit und arbeiten im betreuten Wohnen. Ganz schön viel Geben!
Ich mache das auch für mich, denn ich bekomme viel von den Mädchen zurück. Ich sehe es als meine Aufgabe, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten, und ich freue mich total darüber, wie sie das annehmen und mit welcher Begeisterung sie zum Training kommen, an Projekten teilnehmen und an den Aufgaben wachsen. Es ist schön zu sehen, wie sich die Mädchen zu starken Persönlichkeiten entwickeln.
Was heißt denn stark?
Eine starkes Mädchen oder eine starke Frau ist eine, die aus Rückschlägen eine Taktik entwickelt, um weiterzukommen. Sie weiß, was sie will, und lässt sich keine geschlechtsspezifischen Grenzen setzen, also nicht sagen, was sie als Mädchen angeblich darf und was nicht.
Sind die Mädchen anfangs auch schüchtern, weil sie Angst haben, mit einer Verletzung aus dem Ring zu steigen?
Nein, eigentlich nicht. Die Sorge ist eher, was die Eltern oder der Bruder dazu sagen, dass sie boxen wollen.
Aber sie kommen ja trotzdem.
Ja, aber aus verschiedenen Gründen. Für einige ist es immer noch etwas Außergewöhnliches, als Mädchen zu boxen; viele Mädchen werden zum Beispiel in der Schule darauf angesprochen, sie erfahren mehr Respekt. Manche haben kein sehr ausgeprägtes körperliches Selbstbewusstsein und sehen vielleicht eine Freundin, die sich durch den Sport anders bewegt und auch in der Schule selbstbewusster auftritt. Aber alle wollen sich auspowern, Spaß haben, sportlicher werden und ab und zu einfach auch mal Frust ablassen.
Mit welchem Frust kommen sie denn?
Wenn die Mädchen den alltäglichen Anforderungen, die immens hoch sind, teilweise nicht gerecht werden können, erzeugt das Frust. Auch, wenn sie nicht genügend Anerkennung bekommen oder aber gar Gewalterfahrungen auf dem Schulhof, zu Hause oder auf der Straße machen, steigt das Aggressionspotenzial. Es ist für Mädchen im Alltag schwer, diese Aggression abzubauen, da es gesellschaftlich nicht akzeptiert ist, dass Mädchen damit nach außen gehen. Beim Boxen können sie ihren Frust ablassen, anstatt ihn vielleicht autoaggressiv gegen sich selbst zu richten.
Und für diese Sozialarbeit eignet sich Boxen am besten?
Sport eignet sich generell gut für die Soziale Arbeit, jedoch hat da jede Sportart andere Schwerpunkte. Beim Boxen geht es sehr stark um Eigenverantwortlichkeit, darum, eigene Grenzen auszutesten. Beim Training können Emotionen hochkommen, mit denen dann gearbeitet werden kann. Die Hälfte der Mädchen hat außerdem einen Migrationshintergrund, viele kommen aus sozial schwachen Familien. Bei den Boxgirls lernen sie verschiedene Kulturen kennen und erfahren, dass sie wichtige Mitglieder unserer Gesellschaft sind.
Wie gehen die Mädchen denn mit der aktuellen Integrationsdebatte um?
Solche Äußerungen wie die von Thilo Sarrazin treffen sie natürlich sehr. Leider musste ich vor kurzem mit einem Elternteil darüber diskutieren, warum ein Vater beim Training nicht zugucken durfte, als er unangemeldet in der Halle stand. Die Eltern haben das darauf bezogen, dass dort auch Mädchen mit Kopftuch trainierten, und fühlten sich ungerecht behandelt. Schnell kam das Argument, dass wir hier in Deutschland sind und ein Vater beim Training seiner Tochter zugucken dürfen muss.
Wie begegnen Sie dem?
Ich habe erklärt, dass das nichts damit zu tun hat, ob wir hier in Deutschland leben oder nicht. Wir bieten Mädchen einen geschützten Raum, in dem sie sich frei bewegen wollen und sollen. Es geht nicht nur um Mädchen mit muslimischem Glauben, sondern auch andere Mädchen mögen es nicht, wenn Jungen oder Männer ihnen beim Sport zugucken. Ich arbeite auch mit Mädchen mit Gewalterfahrungen, die diesen geschützten Raum für sich brauchen. Wenn ein Vater zugucken möchte, kann er das gerne anmelden, und ich kann dann mit der Gruppe besprechen, wann es am besten möglich ist.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung macht sich derzeit ja für Jungenförderung stark mit dem Argument, dass diese jahrelang vernachlässigt worden sei. Sehen Sie das auch so?
Nein. Es ist wichtig, Jungen und Mädchen ihren Lebenswelten entsprechend zu fördern. Endlich wurde mal geschaut, was Mädchen wirklich brauchen, und versucht, darauf zu reagieren. In dieser Zeit wurden die Jungen nicht vergessen. Aber auch wir schließen nicht aus, uns zu öffnen und nicht nur Projekte für Mädchen und Frauen anzubieten.
Wie zum Beispiel Ihr queeres Training?
Ja. Unsere Idee war, Menschen, die sich nicht in Geschlechterrollen einordnen und entsprechend behandeln lassen wollen, eine Trainingsmöglichkeit zu bieten. Das Queerboxen ist gerade erst angelaufen, und es sind schon mehr als zwanzig Leute gekommen, sodass wir überlegen, eine zweite Gruppe aufzumachen.
Was genau heißt queeres Training?
Im genderrigiden Sport gibt es eine klare Geschlechtertrennung. Wer heteronormativen Strukturen nicht entspricht, fühlt sich in normalen Sportvereinen selten willkommen. Transmännern zum Beispiel wird das Training in einem Männerverein mit rauem Umgangston meist sehr schwer gemacht. Wir wollen ein offenes und gemischtes Training anbieten.
2012 wird Frauenboxen zum ersten Mal olympische Disziplin sein, und Frauen kommen auch in der Öffentlichkeit im Boxring an. Wie sieht es aus mit Trainerinnen und Kampfrichterinnen?
Im Amateurboxen gibt es ein paar Trainerinnen, im Profisport habe ich noch keine Trainerin gesehen. In Berlin bin ich die einzige amtierende Punkt- und Ringrichterin, aber eher, weil das für viele Frauen nicht so attraktiv ist.
Was hat es attraktiv für Sie gemacht?
Ich wollte zum einen das Regelwerk genau kennen, damit mich keiner übers Ohr hauen kann. Zum anderen hat mich auch die Struktur interessiert: Ich wollte zeigen, dass Frauen auch im Boxsport Entscheidungsträgerinnen sein können. Inzwischen habe ich guten Kontakt zu den anderen Kampfrichtern, obwohl es vorher mit einigen eine Eingewöhnungszeit brauchte.
Stehen Sie denn selbst noch bei Wettkämpfen im Ring?
Im Moment nehme ich nicht als Boxerin an Wettkämpfen teil. Dazu müsste ich drei- bis viermal in der Woche trainieren, was ich gerade nicht schaffe. Aber als Ringrichterin und Trainerin in der Ecke bin ich natürlich dabei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!