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Abschlussbericht zu MissbrauchsfällenOdenwaldtäter beim Namen genannt

Der vorläufig letzte Bericht zu Opfern sexuellen Missbrauchs an der einstigen Vorzeigeschule bringt weitere furchtbare Details ans Licht. Aufklärerinnen nennen Täter wirklich Täter.

283 Jungen sollen hier missbraucht worden sein: Die Reformschule Odenwald. Bild: dpa

HEPPENHEIM taz | Die beiden unabhängigen Aufklärerinnen der Odenwaldschule haben sich zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. Sie bezeichnen die übergriffig gewordenen Lehrer der Odenwaldschule tatsächlich als Täter - und nennen sogar ihre Namen. Vier Männer seien eindeutig als Täter zu identifizieren, darunter auch der noch lebende Jürgen Kahle. Er sei durch sadistisches Quälen und Erniedrigen aufgefallen.

Der Haupttäter war allerdings Gerold Becker, auch Wolfgang Held und Gerhard Trapp gelten als schuldig. Nach den bisher vorliegenden Meldungen gibt es 111 Opfer sexueller Übergriffe. Weitere 21 Schüler sind Betroffene, weil sie Zeugen der Übergriffe wurden.

Die Gerichtspräsidentin a. D. Brigitte Tilmann sagte am Freitag, Ziel ihrer Arbeit sei nicht die strafrechtliche Verurteilung der Täter gewesen. Diese sei gar nicht möglich, weil die Taten ausnahmslos verjährt seien. "Aber deswegen können die Vergehen nicht ungeschehen gemacht werden." Es liege eine derartige Fülle von Hinweisen vor, "dass wir hinsichtlich der ihnen vorgeworfenen sexuellen Übergriffe eine Stufeneinteilung vornehmen können".

Dem langjährigen Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker werden 86 männliche Betroffene zwischen 12 und 15 Jahren zugerechnet. Die Aufklärerinnen bezeichnen Becker als klassischen Pädophilen oder Pädosexuellen. "Sein Interesse als erwachsener Mann war vornehmlich auf Kinder gerichtet, die noch nicht geschlechtsreif waren." Das Interesse des Schulleiters sei erloschen, "sobald eine Behaarung der primären Geschlechtsorgane sichtbar war".

Die beiden Aufklärerinnen gehen davon aus, dass Täter wie Becker im Schnitt 283 Jungen missbrauchen. Er müsse sich, bei seiner Neigung, an der Odenwaldschule in permanentem Erregungszustand befunden haben. Die beiden Frauen gehen auch davon aus, dass es ein System des Missbrauchs an der Odenwaldschule gab. Sie begründen dies unter anderem damit, dass insgesamt vier Schulleiter bei der Aufklärung des sexuellen Missbrauchs versagt hätten: Wolfgang Schäfer, Gerold Becker, Wolfgang Harder und auch Whitney Sterling, der bis 2007 Schulleiter war.

Diese Rektoren hätten Berichte über sexuellen Missbrauch bekommen, seien ihnen aber nicht nachgegangen und hätten sie vertuscht. Brigitte Tilmann sagte: "Mich empört es, dass das damals vernebelt wurde." Sie meinte dies besonders in Bezug auf den Täter Wolfgang Held, der bereits in den 60er Jahren gemeldet worden war, vom damaligen Schulleiter Schäfer aber geschützt wurde. Unter Schulleiter Gerold Becker waren solche Meldungen ohnehin zwecklos. Er habe Schülern, die sich trauten, Übergriffe zu melden, mit Schulverweis gedroht.

Die beiden Aufklärerinnen nennen ihren 35-seitigen Text nun doch Abschlussbericht. "Die Schule soll zur Ruhe kommen. Sie soll jetzt ihre Gegenmechanismen erarbeiten und entwickeln." Burgsmüller und Tilmann wollen aber keinen Schlussstrich ziehen. Sie sagen, es sei nur ein Dunkelfeld erhellt worden. Nun sei eine wissenschaftliche Aufarbeitung nötig. Alle, die sich melden wollen, könnten dies weiterhin bei ihr oder beim Betroffenenverein Glasbrechen tun. Die beiden Frauen dankten der derzeitigen Schulleiterin Margarita Kaufmann, ohne die die Aufklärung unmöglich gewesen wäre.

Zur Frage der Entschädigung der Opfer konnte die Odenwaldschule am Freitag aber nach wie vor keine Auskünfte geben. Im Februar werde über die Einrichtung einer Stiftung gesprochen, die mit einem noch unbekannten Beitrag der Schule und mit Spenden bedient werden soll, sagte Kaufmann. Dem Betroffenenverein Glasbrechen reicht das nicht. Sein Vorsitzender, Adrian Koerfer, sagte: "Wir erwarten einen substanziellen Betrag." Dabei geht es um direkte Zahlungen - die Einrichtung einer Stiftung halten die Betroffenen für viel zu langwierig.

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8 Kommentare

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  • E
    Ex-Odenwaldschüler

    Heute morgen wurde Gerhard Roese-der sehr mutig und klar die Öffentlichkeit über die wahren Vorgänge an der Odenwaldschule informiert hat und dafür auch von ehemaligen Osoianern massiv kritisiert wurde-vom Landgericht darmstadt zum schweigen verurteilt.Das ist für mich eine klare Ansage das es besser ist sich nicht zu outen und das sehr viel Misstrauen auch gegenüber den angeblichen Aufklärern angebracht ist.Vielen anderen Betroffenen aus dem sog. Dunkelfeld wird es genau so gehen.Es geht wohl darum die Sache notfalls auch mit juristischen Mitteln wieder unter den Tisch zu bringen.1:0 für die Pädosexuellenliga.

  • HS
    Hubert Schöls

    Zur Pädophilie an der Odenwaldschule:

    Es ehrt die taz auch eigene schwere Verfehlungen zuzugeben.

    Ich wünsche mir von der taz, daß sie auch die Wegbereiter dieser Entwicklung anklagt. Dazu gehört besonders der Aktionist, der im Europaparlament sich als vorausschauender Denker Europas darstellt und gern von den Medien wegen alles Möglichem ins Bild gerückt wird, jedoch nie nach seinen Schandtaten an der Odenwaldschule gefragt wird. Bei ihm und Seinesgleichen ist die ideologische Grundlage für diese Verirrungen, die auch die taz mit Recht kriminell nennt, zu suchen.

     

    MfG

     

    H. Schöls

  • SL
    Sam Lowry

    "So wurde eine ehemalige Schülerin die an der Odenwaldschule in den 70er vergewaltigt wurde und dabei mit eine Geschlechtskrankheit infiziert wurde in zeitlichem und personellem Zusammenhang mit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals-also kürzlich-eine Verkehrsstraftat untergeschoben...Sie hat Angst und wird schweigen."

     

    Sind wir in Bananas oder wo ?

     

    Nur leider kann ich eine solche Einstellung nachvollziehen, da ich selbst persönlich einen Fall kenne, in dem jemand ohne gültigen Haftbefehl in der geschlossenen Psychiatrie mundtot gemacht wurde.

    Solange solche Fälle von Politikern und Justiz-Industrie noch gedeckt werden, hilft nur der Glaube an eine universelle (höhere und endgültige) Gerechtigkeit. Amen. Om. Was auch immer...

  • HP
    Heinz Plehn

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    Das ist alles nicht mehr zu fassen...ich vermisse eine Stellungnahme von Herrn Muschg.

  • N
    N.Schaaf

    Ein Ehemaliger berichtete im Fernsehen, dass man in der O.-Schule ein Lied von konkreten Missbrauchszuständen zu singen wusste:

    `Der Be-e-cker, der Be-e-cker,

    der findet Jungens le-e-cker.´

    Von Fiderallallasingen hat er nichts gesagt.

  • E
    Ex-Odenwaldschüler

    Es gibt deshalb eine hohe Dunkelziffer, weil viele sich nicht trauen sich zu melden.Es wurden ehemalige Odenwaldschüler eingeschüchtert und bedroht.So wurde eine ehemalige Schülerin die an der Odenwaldschule in den 70er vergewaltigt wurde und dabei mit eine Geschlechtskrankheit infiziert wurde in zeitlichem und personellem Zusammenhang mit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals-also kürzlich-eine Verkehrsstraftat untergeschoben.Sie ist rechtskräftig vorbestraft und wird sich nicht wagen den Täter-einen prominenten mann - zu benennen.Sie hat Angst und wird schweigen.

  • PO
    Paul Ost

    ganz, ganz schlimm, was damals in der DDR so alles geschehen ist. Wir freuen uns doch immer noch, dass dieses Schweinesystem sich freiwillig von unserem freien liberalen, christlichem Gesoze abgegrenzt hat

  • N
    NN   

    Frau Kaufmann hatte nach eigenen Angaben Kenntnis vom vorangegangenem Missbrauch, wenn auch ihr der Umfang nicht bekannt war.

     

    Somit gehört sie auch zu den Schulleitern, die versagt haben - oder ?