Nahverkehr in London am Weihnachtstag: Nix geht mehr

Für Londoner ist es zu Weihnachten leichter, nach Mallorca als in den Nachbarbezirk zu kommen. Traditionell wird der komplette Nahverkehr am 25.12. eingestellt.

Weil es schon seit 30 Jahren so gemacht wird: Ein Tag Stillstand im Nahverkehr. Bild: dpa

LONDON taz | Was tun am ersten Weihnachtstag in Berlin? Familien und Freunde besuchen, Museen besichtigen, abends schick essen gehen oder einfach in einer netten Kneipe dem Weihnachtsrummel entkommen und dann zur Party oder in den Club? Hunderttausende werden unterwegs sein, viele Touristen aus aller Welt inklusive. Und sie werden vor allem mit der U-Bahn fahren, mit Bussen und Straßenbahnen, den Regionalzügen - oder, wo sie gerade mal fährt, auch mit der schwer gehandicapten S-Bahn. Glückliche Berliner!

Wer sich an Weihnachten in London fortzubewegen gedenkt, geht besser zu Fuß oder stellt sich in den Stau. Denn am Christmas Day gibt es in der 6-Millionen-Einwohner-Metropole keinen öffentlichen Nahverkehr.

London Underground, Londons berühmtes U-Bahn-Netz, macht genau so dicht wie alle Buslinien - und das seit mehr als 30 Jahren. Nur wer ins Ausland fliegt, kommt noch weg: Ein paar Züge und Reisebusse erhalten die Verbindung zu den Flughäfen Heathrow und Gatwick aufrecht. Nach Mallorca kommt man also komfortabler als in den Nachbarbezirk.

Der Rest des Nahverkehrsnetzes ist für mehr als 24 Stunden stillgelegt, weil Mitte der 1970er Jahre befunden wurde, die Nachfrage am 1. Weihnachtstag sei zu mau. Den Betrieb trotzdem aufrechtzuerhalten fand man damals einfach zu teuer.

Heute mag das anders sein. Doch Transport for London (TfL), das Firmennetzwerk, das die meisten Züge, U-Bahnen, Busse und Straßenbahnen in der britischen Hauptstadt betreibt, hält am verkehrsfreien Weihnachtstag fest. Schließlich wird er für dringend nötige Reparaturen und Instandhaltungsarbeiten mehr als gebraucht - eine Begründung, die bei der Berliner S-Bahn Schule machen könnte. Und außerdem, so TfL, habe man so "die unbezahlbare Chance, Signalanlagen und Züge zu testen", ohne dass Passagiere stören.

Offiziell hört sich das dann so an: "Transport for London erhält nur sehr wenige Nachfragen aus der Bevölkerung, am ersten Weihnachtstag irgendeinen öffentlichen Nahverkehr anzubieten", sagt ein Unternehmenssprecher: "Londons Busse sind 364 Tage im Jahr auf vielen Linien sogar rund um die Uhr unterwegs, die U-Bahnen fahren mit Ausnahme des Christmas Day täglich von fünf Uhr früh bis ein Uhr nachts." Okay, sonntags reicht es bei der "Tube" oft nur bis Mitternacht, und wer statt mit der Central Line mit dem Nachtbus in die westlichen Vororte darf, muss eben etwas mehr Lebenszeit einplanen. Und ein durchgehender Nachtverkehr an Wochenenden oder vor Feiertagen wie in Berlin ist erst recht undenkbar.

Louise Osborne war im Rahmen eines IJP-Stipendiums Gast der taz-Redaktion. In England arbeitet sie bei der zur Guardian Media gehörenden Zeitung Woking Mail

Selbst ein "minimaler Service" wäre "viel zu kostspielig", sagt der Sprecher und schließt formvollendet: "Die ,Tube' und Londons Buslinien schließen sich anderen Transportunternehmen, Firmen und Unterhaltungsetablissements an, die am Christmas Day mit ihren Diensten pausieren." Und das bei einem Nahverkehrsriesen, der an normalen Tagen 3,5 Millionen U-Bahn-Fahrten zählt und in 24 Stunden auf 700 Linien rund 6 Millionen Menschen mit dem Bus befördert.

Am Christmas Day ist also Schluss mit der pulsierenden Hektik der britischen Hauptstadt - die meisten echten Londoner sind ohnehin über die Feiertage zu Verwandten aufs Land oder zu ihren Familien geflohen. Wer ein Auto hat, kann auch am Morgen des 25. Dezember noch entkommen, während spätestens um die Mittagszeit der Verkehr auf den Ausfallstraßen zuverlässig zusammenbricht, weil dann alle Daheimgebliebenen in den Vororten Freunde und Verwandte zum Weihnachtsessen besuchen.

Ach so, und was die weltbekannten Londoner Taxis angeht: Einen Cab am Christmas Day zu bekommen ist wie ein Sechser im Lotto. Während sich das bei Londonern während der letzten 30 Jahre allmählich herumgesprochen hat, zeigen sich Touristen immer noch geschockt.

Alice Fauth kommt aus Erlangen und lebt schon seit zehn Jahren in der britischen Hauptstadt. Als sie gerade nach London gezogen war, kam ihre Familie über Weihnachten zu Besuch. "Mein Vater und meine Schwester sind damals von Hammersmith, wo ich wohnte, durch Kensington und den Hyde Park bis zum Marble Arch gelaufen" - freiwillig, um sich die Gegend anzusehen. Dann ging's zum Lunch - Pubs und Restaurants hatten schließlich geöffnet. "Danach sagte mein Vater: ,Ich bin erledigt, lass uns den Bus nach Hause nehmen' ", erzählt Alice Fauth: "Keiner von uns hat doch damit gerechnet, dass weder U-Bahn noch Busse fahren." Dafür gab es Schnee, viel Schnee - Anfang der 2000er Jahre in London übrigens noch eine Seltenheit.

Dass die Riesenstadt am ersten Weihnachtstag ihr Verkehrssystem einfach dichtmacht, findet Fauth "absurd". Schließlich würden viele Menschen trotzdem arbeiten. "Die müssen doch auch zur Arbeit, und wie in Berlin hat längst nicht jeder in London ein Auto. Einfach nicht in der Lage zu sein, seine Familie oder Freunde zu besuchen oder auch nur ein Taxi zu bekommen, weil alle Tage im Voraus reserviert sind, das ist doch lächerlich."

Femke Colborne hat vergangenes Jahr versucht, am Christmas Day aus dem ländlichen Oxfordshire nordwestlich von London zu ihrer Wohnung in der City zu kommen. Sie schaffte es immerhin auf einen Bus nach Heathrow, der durch die Londoner Innenstadt fuhr und an Victoria Station hielt. Doch dort war dann Schluss: "Es hatte schon ewig gedauert, weil der Bus alles andere als die kürzeste Route nahm, und dann musste eine Freundin elend lange fahren, um mich mit dem Auto aufzulesen und nach Hause zu bringen."

Doch die meisten Londoner würden heute wohl gar keinen Nahverkehr am 25. Dezember mehr erwarten, "weil es das schon so lange nicht mehr gibt", sagt Colborne: "Wer kann, bleibt zu Hause oder quartiert sich schon am Tag vorher bei Freunden oder Verwandten ein, mit denen zusammen man Weihnachten feiern will." Dabei ist London eine multikulturelle Stadt - nicht jeder feiert den kleinen Mann in der Krippe.

Am nächsten Tag, dem "Boxing Day" am 26. Dezember, erwacht die britische Hauptstadt dann wieder zum Leben, als wäre nichts gewesen: Alle Geschäfte haben geöffnet, um vom sofort einsetzenden Nachweihnachtskaufrausch zu profitieren, und ab 8.30 Uhr morgens empfängt auch Transport for London wieder Passagiere auf allen Linien.

Wissen Berliner eigentlich, wie gut sie es haben? Hier gilt am Heiligabend der Samstagfahrplan, an den Feiertagen fahren die U-Bahnen die Nacht über durch, weil "gerade junge Leute zu den vielen Partys fahren", wie es bei den Verkehrsbetrieben (BVG) heißt. Am 26. und 27. Dezember gilt dann der Sonntagsfahrplan. "Offenkundig unterscheiden sich Berlin und London da wesentlich", sagt ein BVG-Sprecher: "Bei uns ist am Heiligabend, besonders am Vormittag und in den Abendstunden, Hochbetrieb, und da wollen wir auch alles auf die Schiene bringen, was rollen kann."

In Großbritannien sind die transportlosen Londoner aber nicht allein: In treuer Solidarität mit der Hauptstadt ruht am ersten Weihnachtstag im ganzen Land der Zugverkehr - und auch am zweiten Weihnachtstag bleibt er vielerorts eingeschränkt.

Übersetzung: Steffen Grimberg

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