Sechstagerennen in Berlin: Treu mit Trillerpfeife
Überall stirbt der sechstägige Radzirkus in den Hallen, nur nicht in Berlin. Am Donnerstag wird die 100. Auflage gestartet. Und die Zukunft ist gesichert.
BERLIN taz | Über die Beständigkeit des Berliner Sechstagerennens hat schon mancher gestaunt. Christian Stoll etwa, der dieses Spektakel schon seit etlichen Jahren als Hallensprecher begleitet, weiß haargenau, was ihn in den kommenden Tagen erwartet: "Ich weiß jetzt schon, dass am Freitagabend ein älterer Herr aus Marzahn sich mit seiner Wurststulle, dem selbst mitgebrachten Bier und einem Notizblock sich neben mich setzten wird."
Das sei schon immer so gewesen, und mittlerweile würde man stets auch kurz miteinander plaudern. Für Stoll ist sein Sitznachbar ein typischer Vertreter des Berliner Publikums, das "einen Narren an diesem Rennen gefressen hätte". Die kämen nur wegen des Sports.
Donnerstag wird das Berliner Sechstagerennen gestartet – zum 100. Mal. Wie üblich werden dann viele der meist betagteren Zuschauer fleißig die aktuellen Ergebnisse in ihren Notizblöcken notieren. Und wenn der Sportpalastwalzer erklingt, werden sie zu ihren um den Hals baumelnden Trillerpfeifen greifen, um ihren Einsatz nicht zu verpassen. Für Erstbesucher mag all das verschroben wirken.
Die schrullige Beharrlichkeit des Berliner Publikums ist jedoch ein Grund dafür, warum die Stadt vom Niedergang der Sechstagerennen in Deutschland verschont geblieben ist. In München, Stuttgart, Dortmund nahm das Interesse am Radzirkus in den Hallen derart ab, dass die Veranstalter wegen zu hoher Verluste kapitulierten. Und auch in Bremen, wo neben Berlin noch das letzte Sechstagerennen in Deutschland gefahren wird, ist derzeit unklar, ob und wie es weitergehen soll.
Dieter Stein, der sportliche Leiter des Berliner Rennens, will sich dazu gar nicht äußern: "Wenn Sie darüber mit mir reden wollen, habe ich keine Zeit." Gesprächig wird Stein erst, wenn es darum geht, das Jubiläumsrennen anzupreisen: "Wir haben sechs WM-Titelträger, acht Europameister und fünf Pro-Tour-Fahrer auf der Bahn.Von der Qualität und Quantität sind wir die Nummer eins auf der Welt."
Besonders stolz ist er darauf, dass er mit den beiden Australiern Cameron Meyer und Leigh Howard ein Duo verpflichten konnte, das bei der Bahnrad-WM 2010 gemeinsam fünf Titel einfuhr. Zudem gewann Cameron Meyer gerade die Tour Down Under in Australien. Außerdem zu den Favoriten zählen die Deutschen Robert Bartko/Roger Kluge und die Vorjahressieger Alex Rasmussen/Michael Mörköv.
Berlin scheint sich als Radsportinsel der Glückseligen herauszukristallisieren. Zumal vor gut einer Woche bekannt gegeben wurde, dass nach Absprache mit dem Berliner Senat das Sechstagerennen bis ins Jahr 2017 gesichert sei. Aber kann die Veranstaltung als Solitär in Deutschland überleben? Dieter Stein ist überzeugt davon, obwohl er einräumt, dass die Verantwortlichen Jahr für Jahr schlaflose Nächte hätten, ob das vorgestreckte Geld denn tatsächlich wieder eingespielt wird.
Hallensprecher Stoll hingegen glaubt, dass Berlin auf Dauer nicht als einziger Standort existieren kann. Er selbst will mit einem niederländischen Partner in der nächsten Saison Sechstagerennen in Köln und Hannover veranstalten. Sein Konzept: kleinere, dafür aber volle Hallen. Dazu geringere Eintrittspreisen und ein übergeordnetes Partymotto. In Köln heißt es: "So startet Karneval." In Hannover: "Die beste Weihnachtsparty." Um auch jüngeres Publikum anzuziehen, sollen die auf der Straße so erfolgreichen Jedermann-Rennen auch in der Halle gestartet werden.
Dieter Stein sagt, er wünsche Stoll viel Glück für sein Vorhaben, aber er sei skeptisch, ob er angesichts der allgemeinen Wirtschaftslage Erfolg haben werde. Die ökonomische Krise und die zahllosen Dopingverstrickungen des Radsports gelten als Hauptursachen für das rapide Schwinden der Sechstagerennen in Deutschland.
In Berlin hat man bislang beidem trotzen können. Zur Dopingvergangenheit pflegt man gar ein erstaunlich unbeschwertes Verhältnis. Die Presseabteilung im Velodrom bestätigte, dass man zur Jubiläumsveranstaltung den früheren Tour-de-France-Sieger Jan Ullrich als Ehrengast einladen wollte. Jenen Ullrich, der nach dem Urteil der deutschen Staatsanwaltschaft, erwiesenermaßen gedopt hat. In der Antwort der Berliner Sechstage GmbH an die taz heißt es: "Leider haben unsere Bemühungen, ihn zu erreichen, keinen Erfolg gehabt."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!