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Aus der Literataz: "Über die Armengesetze"Armut als Charakterdefizit

Manches ändert sich nie: Joseph Townsend diskutierte 1786 die Frage, ob man die Armen hungern lassen sollte. Ist er ein Vorläufer von Thilo Sarrazins Thesen?

"Im Allgemeinen kann nur der Hunger sie anspornen und zur Arbeit treiben." - Joseph Townsend denkt, dass Armut selbstverschuldet ist. Bild: designritter/photocase.com

Als Thilo Sarrazin als Sparmaßnahme den Armen empfahl, häufiger mal kalt zu duschen, weil "ein Warmduscher im Leben noch nie weit gekommen" sei, da trat er im Selbstversuch den Beweis an, dass auch Deutschlands Elite unter der nur noch rudimentär zu vererbenden Intelligenz zu leiden hat, die Sarrazin bei den Hartz-IV-Empfängern diagnostiziert hatte. Sarrazin steht hier in einer jahrhundertealten Tradition, denn schon 1786 erschien ein Pamphlet "Über die Armengesetze".

Wie für Sarrazin war auch für den zunächst anonymen Verfasser der Schrift, Joseph Townsend, Armut selbstverschuldet und ein charakterlicher Mangel. Und auch Townsend unterscheidet zwischen den "Fleißigen", die hart arbeiten und kärglich leben, und den "unwürdigsten Subjekten", denen "die üppigste Unterstützung" gewährt wird.

Weil dieser Argumentation nur ein geringes Begreifen vom Funktionieren einer Gesellschaft zugrunde liegt, also ein Verständnis dafür, wie Armut entsteht und generiert wird und welche notwendige Rolle sie in der Politik spielt, muss alles auf der Ebene der Moral verhandelt werden. "Wo man Brot ohne Last und Mühe erwerben kann, führt der Weg über Müßiggang und Faulheit zur Armut", behauptet Townsend, und weiter: "Im Allgemeinen kann nur der Hunger sie anspornen und zur Arbeit treiben; doch unsere Gesetze diktieren: Hungern sollen sie nicht."

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Auch Karl Marx fiel dieses Pamphlet auf, über das es im ersten Band des "Kapitals" heißt, in ihm werde "die Armut als notwendige Bedingung des Reichtums" in grober Weise verherrlicht.

Bei Townsend ist bereits die Transformation ausformuliert, die ein rein auf Moral gestütztes Argument vollzieht, denn es wird genau der zivilisatorische Fortschritt einer Gesellschaft mit dem Anspruch, den Hunger abzuschaffen, als deren Schwäche interpretiert.

Man muss seine Fantasie nicht übermäßig strapazieren, um sich denken zu können, worauf die Ideologie Townsends hinausläuft und wie Philipp Lepenies, der Herausgeber, im umfangreichen Nachwort schreibt, nimmt Townsend in seiner Streitschrift folgende "drei Schlüsselgedanken der kommenden Epoche vorweg: das Bevölkerungsprinzip von Thomas Robert Malthus, die Idee der natürlichen Selektion von Charles Darwin und vor allem den Glauben, dass sich selbst regulierende Märkte ein universelles Organisationsprinzip in Natur und Gesellschaft sind".

1729, ein gutes halbes Jahrhundert früher, erschien bereits eine treffende Kritik an Townsend. Jonathan Swift machte damals einen "bescheidenen Vorschlag", wie sich mit dem Problem der Armen umgehen ließe. Die 120.000 Kinder armer Eltern sollten ein Jahr lang gesäugt werden, um dann "geschmort, gebraten, gebacken oder gekocht" als "nahrhafte und bekömmliche Speise" für die Allgemeinheit nutzbar gemacht zu werden. Eine grandiose Satire, die den gelehrten Ton solcher Abhandlungen wie den von Townsend ganz wunderbar auf die Schippe nimmt.

Joseph Townsend: "Über die Armengesetze. Streitschrift eines Menschenfreundes", Aus dem Englischen von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 123 Seiten, 10 Euro.

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13 Kommentare

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  • A
    Anita

    Also wenn ich mich auf illegale Weise des Vermoegens eines anderen bemaechtige und der andere daraufhin arm ist, wohingegen ich reich bin, habe ich den besseren Charakter?

    Wenn ich 20 Naeherinnen fuer mich arbeiten lasse und die Haelfte des Ertrages, den jede einzelne von ihnen erwirtschaftet, in meine eigene Tasche stecke und somit das 20fache an Einkommen wie diese Naeherin hab, hab ich auch den 20fach besseren Charakter?

    Also in _meiner_ Welt sind das einfach nur assoziale Schmarotzer.

    Sind die Paris Hiltons dieser Welt deshalb so haeufig magersuechtig? Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen?

    Nie was im Leben gearbeitet oder geleistet, lebt aber besser als jemand, der 50h die Woche malocht.

  • T
    ts-dagewe

    der ist wirklich noch ein menschenfreund, im vergleich. lesen sie mal den Malthus, christlicher geistlicher und als solcher qua amt zur moral(predigt) berufen.

    der sprach sich gegen jede art von sozialleistung aus. warum? die würden lediglich zu einer (pyhsischen) vermehrung der armen bevölkerung führen, zu nichts anderem.

    für die angeblich faulen armen wurden arbeitshäuser eingerichtet, die den zuchthäusern nicht nahestanden. armut, kann man folgern, war nicht nur ein makel, er war geradezu eine sünde.

    das alles seinerzeit unter dem beifall der herrschenden klasse.

    das alles hat sich erst geändert, als die arbeiterbewegung für ihre rechte zu kämpfen begann.

  • H
    Hans

    @Christoph Baumgarten

    Ich stimme ihnen zu, aber ernst nehmen muss man Sarrazin schon, denn es nehmen ihnen einfach viel zu viele ernst.

     

    Aber meine Beobachtung ist auch die, dass sein Buch praktisch nicht gelesen, aber stetig gelobt wird. Und deswegen macht es schon Sinn ihn korrekt wiederzugeben, zuaml da genug Wahnsinn und gebrochene Logik drinnen steckt. Auf jeden Fall rechterfertig er im Prinzip jede Verarmung, weil die Menschen sich dann ja falsch verhalten, wer sich richtig verhält, der wird ja nicht arm und auch nich Bezieher von Sozialleistungen.(Sagt jemand, der sein ganzes Leben vom Staat gelebt hat, aber privilegiert)

  • A
    Achmed

    Ja, klar, Kinderwurst aus den armen, fremdsprachigen, heidnischen und ledigen Kindern, das drängt sich auf wenn man sich die Townsends, die Sarrazins und noch ein paar andere Unmenschen aus der spätrömischen Dekadenzriege der leistungslosen Bezieher von Zins- und Kapitaleinkünften wirklich antut.

     

    Mit dieser entlarvenden Idee bin ich schon in der einen oder anderen Zeitungs-Kommentarfunktion als "unerwünscht zynisch" 'rausgeflogen.

     

    Des einen Reichtum ist immer und gleichzeitig der anderen Armut, weshalb es um so menschenverachtender ist, die Verarmten auch noch als diejenigen Gesellschaftsteilnehmer mit den schlechteren Charakteren zu diffamieren.

     

    Die soziale Marktwirtschaft ist zu einem Angstkapitalismus mit inzwischen deutlich kannibalischen Zügen verkommen, und als Leistung bezeichnen die dekadenten Spätrömer inzwischen das, was sie ihren Nächsten erfolgreich weggenommen haben um selbst damit zu herumzuprotzen.

     

    Selbst der olle Wiggerl Erhart würde ins rotieren kommen in seinem Grab.

  • C
    Celsus

    Harte und rücksichtslose Thesen sind tatsächlich nicht unbedingt erst in der Neuezit vertreten worden. Insoweit ist der Begriff "neo"-liberal auch etwas täuschend.

     

    Allerdings glaubte mensch lange Zeit, dass die Zeiten von Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen und mangelendes Einfühlungsvermögen gegenüber anderen Menschen nach dem Ende des 2. Weltkrieges der Vergangeheit angehören würden. Im Grundgesetz wurde das Sozialstaatsprinzip verankert, dass selbst der Möglichkeit der Verfassungsänderung entzogen wurde.

     

    Derzeit allerdings ist ihre Überschrift sehr treffend. Tatsächlich wird Arbeitslosen heute gerne mit viel PR-Aufwand unterstellt, sie hätten Charakterschwächen. Und hinter dem Zeigefinger stecken viele PolitikerInnen, die schon unfähig waren, überhaupt hinreichend Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten. Stattdessen: Wortreiches Getöse mit Lügen ohne Ende.

     

    Und tatsächlich hat sich darüber ein neues Menschenbild geprägt. Der charakterschwache Arme und der durch seinen angeblich so guten Charakter reiche Mensch. Die Reichen sind da gleichzeitig multitaskingfähig. Sie können gleichzeitig im Bundestag sitzen und mit summa cum laude promovieren. Gleichzeitig lenken sie noch die Geschicke des reichen Familienimperiums.

     

    Es wäre diesen Menschen sicherlich gerne gegönnt, wenn nicht andere unter diesem neuen Menschenbild auf einmal zu leiden hätten.

  • AW
    Alibaba Wunderbar

    @vic

    "Wer nicht arbeitet, der soll auch nichts essen." - Gilt dieser Satz dann auch für die Töchter und Söhne schwerreicher Eltern?

     

    Denn das Erben und Verwalten mehrerer Millionen bzw. Milliarden würde ich nicht gerade als "Arbeit" bezeichnen, zumal man mit einer einzigen lächerlichen Million Euro bei einem Zinsatz von 4 Prozent netto mehr Zinsen im Jahr bekommt als eine Krankenschwester im ganzen Jahr verdient. Ich vermute, dass liegt daran, dass die Arbeit einer Krankenschwester eben auch keine richtige Arbeit ist.

  • F
    FAXENDICKE

    Reicher Mann und armer Mann standen da und sah`n sich an.

    Da sagt der Arme bleich: 'Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.'

    (Berthold Brecht)

  • CB
    Christoph Baumgarten

    @Hans: Nein, für Sarrazin ist der Sozialstaat eigentlich ein Übel. Das verbrämt er mit salbungsvollen Worten und kleinbürgerlichen Chauvinismen. Aber eben nur mühselig. Wer weiß, wie Hartz-IV-Empfänger leben, dass sie häufiger krank sind, früher sterben etc., kommt kaum umhin festzustellen: Hartz-IV ist staatlich verordnete Massenarmut in Verbindung mit staatlich verordnetem Lohndumping. Genau DAS perpetuiert die Zustände, aus denen die Betroffenen angeblich herausgeholt werden sollen.

    Zuerst macht man die Leute so fertig, dass sie kaum mehr arbeiten können. Nachher verlangt man von ihnen, dass sie sich ohne Hilfe aus dem aufgezwungenen Schlamassel ziehen wie Münchhausen aus dem Sumpf. Zu allem Überfluss gibt's dann noch die Sarrazins dieser Welt, die den Betroffenen dann vorbeten, wie gut es ihnen eigentlich geht und dass sie eigentlich noch stärker unter Druck gesetzt werden müssten.

    Wie man diesen Herrn Sarrazin noch ernst nehmen kann, ist mir schleierhaft. Noch weniger versteh ich, wie man ihn verteidigen kann. Er ist ein neoliberaler Zyniker, der auf einer Weltuntergangsstimmung mitreitet und abgeschmackte Platitüden von sich gibt, die er noch dazu für seine eigenen Gedanken hält. Eigentlich lächerlich sowas.

  • V
    vic

    Wieso Sarrazin?

    Stalin: Wer nicht arbeitet, der soll auch nichts essen.

    Hoch lebe die Internationale!

  • SR
    soeren roth

    Die Menschen sind dazu da (jenen) dienlich zu sein, welche sie befähigten dienlich zu sein. Ob die Menschheit in der Lage ist sich selbst zu beurteilen

    bezweifle ich. Allerdings - wer kann schon urteilen wenn er nicht weiß worüber und warum.

    Armut ist sicherlich nicht selten ein Charakterzug. Asketisch gesehen jedenfalls.

    Wenn hinter der Aussage über ein Charakterdefizit

    eine darvinistische Relativierung versteckt wird ist das natürlich mehr als feige und dem Auftrag .. vielleicht dienlich und nützlich.

     

    Unmenschlich ist diese Verallgemeinerung sicherlich.

    Es gibt offensichtlich Gutmenschen und Andere.(!?)

    Und die "Gutmenschen" sind sicherlich nicht die allgemeinen Weltverbesserer (ich nenne sie eher progressive, säkulare, friedmenschliche, evolutionisten) sondern viel mehr (also auch jene die im allgemeinen Parteienspektrum auf keinen Fall hierzu gezählt werden wollen), und die Anderen sind bewußter, schlauer und mächtiger als zu befürchten war.

  • S
    Stefan

    Daß Armut selbstverschuldet (oder -gewollt!!!) ist, gilt im Individualfall nahezu immer, wenn man ernste Behinderungen ausschließt.

    Daß Armut gleichzeitig ein systemisches Problem ist, gilt ebenso, wenn es um die gesamtgesellschaftliche Schau geht.

     

    Wie schon öfter gepredigt, der Mensch ist Zweiheit - Individuum und Kollektivum, unabhängig voneinander, und kann auch nur so erkannt werden. Wer dies vermengt, wie implizit hier oben, sollte "einfach mal die ..." oder der Volksverhetzung verdächtigt werden.

  • H
    Hans

    Sarrazin stellt im Gegensatz zu Townsend den Sozialstaat als eine Errungenschaft dar, die aber die falschen Anreize setze, denn es lohnt sich in diesem Sozialstaat für besonders schwache und ausselektierte Menschen, also Migranten und Muslime, gar nicht mehr zu arbeiten.

    Später hat Sarrazin diese Gruppe als fast vollständig muslimisch dargestellt. Sarrazin bestreitet eigentlich, dass es überhaupt Armut gibt. Nach seiner Meinung kann in einer Gesellschaft wie Deutschland ein Mensch immer gut und auskömmlich leben, selbst von Hartz-IV. Es komme halt auf das Verhalten des Menschen an. Und Sarrazin hat sogar Schwarzarbeiter gelobt, weil diese - sinngemäß - überhaupt noch eine Initiative zeigen würden.

     

    Meiner Meinung nach sind die Thesen von Townsend weniger signifikant als die protestantisch-calvinistische Lehre vom Glück auf Erden für die Fleißigen und der Bestrafung der Faulen durch Armut (und Arbeitslosigkeit). Armut ist hier fast eine Sünde, weil der Mensch seine Kräfte nicht nutzt und sein irdisches Leben nicht nutzen kann.

     

    Wie auch immer: Solange die Menschen dick Steuern bezahlen und der Staat, als Kollektiv, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen maßgeblich beeinflusst, sind solche Überlegungen reine Spekulation und Ideologie. Marx hat übrigens auch die These aufgestellt, dass sich die Armut vergrößert, wenn der Kapitalismus expandiert (Pauparisierung). Das wurde in den letzten 30 und 40 Jahren immer belächelt, weil scheinbar das Gegenteil der Fall war ...

  • D
    DarwinStandNichtAufAsozialeAnabolikaKapitalisten

    "natürlichen Selektion von Charles Darwin und vor allem den Glauben, dass sich selbst regulierende Märkte ein universelles Organisationsprinzip in Natur und Gesellschaft sind"

    ....und ich wette meinen ganzen berg voller reichtümer, dass er genau davon nicht ein blassen schimmer hat...

    das ist immer schon ein problem dieser,der liberalen ua gewesen.

    das wäre so, als wenn ich darwin für den sozialdarwinismus verantwortlich machen würde.