AKW Temelín in Tschechien: Einmal den roten Knopf drücken

Äußerst entspannt gehen die Tschechen mit dem Thema Atomkraft um. Ihr AKW Temelín gilt bei den Nachbarn in Bayern und Österreich als extrem unsicher.

Die Kühltürme von Temelín ergänzen das dörfliche Panorama. Bild: reuters

TEMELIN taz | Wenn es in Tokio fünf vor zwölf ist, ist es in Temelín kurz vor vier. Zumindest behaupten das die Uhren, die über dem Eingang der Dorfkneipe von Temelín hängen. Dass der Zeitunterschied zwischen Südböhmen und dem Fernen Osten eigentlich neun Stunden beträgt, stört niemanden. In Temelín tickt man halt etwas anders.

"Temelín ist das sicherste Kraftwerk der Welt", erklärt Jan Penicka, der vor drei Jahren in den 120-Seelen Ort unweit zwischen Moldau und Böhmerwald gezogen ist. Seine Nachbarn, die im Kraftwerk arbeiten, hätten ihm dies versichert. Im Schatten der Kühltürme fährt er seine beiden sechs Monate alten Jungs spazieren. "Sie sind die ersten Zwillinge, die seit 55 Jahren hier in Temelín geboren wurden", sagt er stolz. Ob das vielleicht am Kraftwerk liege? Jan Penicka schaut etwas irritiert in Richtung AKW: "Nein, ich hoffe nicht", lacht er.

Jenseits des Böhmerwaldes, in Bayern und Österreich, ist beim Gedanken an Temelín kaum jemandem zum Lachen zumute. Die heftigen Proteste und Grenzblockaden, die noch tobten, bevor der erste der insgesamt zwei Reaktoren im Oktober 2000 ans Netz ging, sind zwar inzwischen abgeebbt, dennoch gilt das AKW in Deutschland und Österreich als extrem unsicher.

Bastard-AKW

Kritisch beäugt wird vor allem der Mix der Systeme: Vertragen sich russische Reaktoren mit amerikanischer Leittechnik? Mit dem Bau von Temelín wurde im Jahre 1983 begonnen. Da war die Welt noch zweigeteilt, und die Tschechoslowakei bekam ihre Druckwasserreaktoren vom sozialistischen Bruderstaat Sowjetunion. Nach deren Zusammenbruch wandten sich die Tschechen in den 90er Jahren an den US-Konzern Westinghouse, der das Sicherheitssystem lieferte.

"Diese Bastardisierung des AKW hat dazu geführt, dass der Betrieb in Temelín öfters abgestellt werden musste als in westlichen Kraftwerken, die nicht so zusammengebastelt sind", sagt Jan Rovensky von Greenpeace in Prag. Wo genau die Probleme liegen, kann er allerdings nicht sagen. "Weil es keine gibt", argumentiert der stellvertretende Leiter der tschechischen Strahlenschutzbehörde SUJB, Petr Brandejs.

So ungewöhnlich, wie es immer wieder dargestellt wird, sei der Systemmix außerdem nicht. In Finnland zum Beispiel werden auch russische Wasser-Wasser-Energie-Reaktoren (WWER) von deutschen Siemens-Systemen geleitet. Brandejs: "In den zehn Jahren, in denen Temelín in Betrieb ist, ist es zu keinen Problemen gekommen, die auf den russisch-amerikanischen Mix zurückzuführen sind."

Viel gefährlicher als der Technologiemix sei die Schlamperei am Bau, meint Jan Rovensky. Seit mehr als zehn Jahren klagt Greenpeace über eine poröse Schweißnaht direkt am ersten Reaktor. "Damals wurde ein Rohr falsch angeschweißt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde das dann verbessert. Aber weil dasselbe Rohr an derselben Stelle wieder angeschweißt wurde, ist die Schweißnaht nun schwächer, als sie sein darf. Und weil sie direkt am Reaktor liegt, wo ja unheimlicher Druck herrscht, könnte sie theoretisch irgendwann mal platzen", fürchtet Jan Rovensky.

"Jaja, die Schweißnaht", lächelt Strahlenschützer Brandejs müde. Aufgrund der Greenpeace-Klage sei diese mehrfach untersucht worden, auch von internationalen Experten. "Alle sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es zu keinen unautorisierten Ausbesserungen am Reaktor gekommen ist." Wegen dieser ganzen Geschichte, meint Brandejs, sei der erste Temelín-Reaktor wohl der am gründlichsten geprüfte und am besten dokumentierte Reaktor der Welt.

Schweißnähte hin oder her, Fakt ist: Insgesamt 27 Sicherheitsüberprüfungen hat es in Temelín schon gegeben. Die Deutschen waren da, die Österreicher sowieso. Und auch die IAEO, die Internationale Atomenergie-Organisation. "Alle haben uns bestätigt, dass Temelín mit westlichen Druckwasserreaktoren des Typs PWR standhalten kann", sagt Petr Brandejs. "Außerdem", sagt er, "steht Temelín auf erdbebensicherem Gebiet. Und ein Tsunami in der Moldau droht kaum."

Selbst Greenpeace-Aktivist Jan Rovensky weiß, dass es in Tschechien unsicherere Anlagen gibt als Temelín: "Das AKW Dukovany zum Beispiel." Das Kraftwerk in Südmähren ist um einiges älter als Temelín, liegt noch näher an der österreichischen Grenze. "Und von den vier Reaktoren hat keiner ein Containment, das ist bedenklich", sagt Rovensky.

Dennoch gilt das Interesse Temelín, dem Medienstar unter den Atomkraftwerken. Mehr als 130 Störfälle wollen bayerische und österreichische Atomkraftgegner dort schon gezählt haben. "Das sind aber keine nuklearen Störfälle, sondern ausnahmslos Probleme im sekundären Kreislauf. Zu einem Austritt von Radioaktivität außerhalb der Sicherheitszone ist es noch nie gekommen", sagt Brandejs.

Die Tschechen gehen äußerst entspannt mit der Kernkraft um. Zum einen liegt das daran, dass sie in ihr eine gute Alternative zur Kohlekraft sehen. Im Norden der Tschechischen Republik, wo die meisten der 15 Kohlekraftwerke stehen, mussten mehr als 80 Gemeinden den Kraftwerken weichen, noch zwei sollen folgen. Die Lebenserwartung dort ist um zwei Jahre niedriger als der Landesdurchschnitt.

"Die Liebe der Tschechen zur Kernkraft liegt auch daran, dass wir Tschechen ein Volk von Technikern sind. Ein Ingenieur hat hier mindestens so viel Prestige wie ein Doktortitel", sagt Jan Rovensky. Temelín ist eben nicht nur ein Atomkraftwerk, sondern auch ein Nationaldenkmal.

"Rund 32.000 Besucher hatten wir hier im vergangenen Jahr", erklärt Temelín-Sprecher Marek Svitak. "Als Touristenattraktion hier in der Region ist Temelín so beliebt wie die Burgen und Schlösser Südböhmens." Im interaktiven Besucherzentrum, in einem barocken Schlösschen gleich gegenüber dem AKW, kann man die einzelnen Kreisläufe nachverfolgen, Brennstäbe gucken und Keramiktassen aus der benachbarten Behindertenwerkstatt kaufen.

Wem das nicht reicht, der kann sich zu einem Rundgang im eigentlichen AKW anmelden. Besonderes Schmankerl: das Steuerungszentrum Temelíns ist zu Übungszwecken eins zu eins nachgebaut worden. Wer nett fragt, darf da vielleicht auch mal auf den roten Knopf drücken, der im Ernstfall das Kraftwerk herunterfahren soll. Atomausstieg beim Familienausflug.

Nein zum Atomausstieg

Ein Atomausstieg ist für Tschechien kaum eine Alternative. Immer wieder belegen Umfragen, dass zwei Drittel der Tschechen pro Atom sind. "Hier in Südböhmen sind es sogar 80 Prozent", weiß Temelín-Sprecher Marek Svitak. Kein Wunder: Der Betreiber des AKW Temelín, die staatlichen Tschechischen Elektrizitätswerke (EZ), produzieren nicht nur Atomstrom, sondern pumpen auch Kohle in die Region. "Wir unterstützen gesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten, sponsern Sportveranstaltungen, sponsern Schulen, finanzieren Kinderspielplätze", zählt Svitak auf. Zwischen 2009 und 2018 will die EZ so rund 1,8 Milliarden Euro nach Südböhmen stecken.

"Das Beste ist die Liegenschaftsteuer, die unsere Gemeinde jährlich vom Kraftwerk erhält. Die macht bei Weitem den größten Posten in unserem Haushalt aus", freut sich der Bürgermeister von Temelín, Petr Machácek. Da hat er auch nichts dagegen, dass Temelín in den nächsten Jahren um zwei Reaktorblöcke erweitert werden soll.

Im Augenblick läuft die Umweltverträglichkeitsprüfung, und der Betreiber EZ versucht, die 20 Milliarden Euro zusammenzubekommen, die der AKW-Ausbau kosten soll. Eine Investition, die sich lohnen könnte. Vor allem, wenn Deutschland mit dem Atomausstieg Ernst macht. Tschechien exportiert rund 14 Prozent seines Stroms. Und Temelín-Sprecher Marek Svitak macht neue Chancen aus: "Von einem Atomausstieg in Deutschland könnten wir sicher profitieren."

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