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Debatte JapanZurück in die Wirklichkeit

Kommentar von Rainer Kreuzer

Die Atomkatastrophe in Japan zeigt, dass unsere Gesellschaft den Bezug zu den Realitäten verloren hat. Eine digitale Traumwelt schirmt uns ab.

D ie AKW-Katastrophe von Fukushima hat nicht nur die extremen Risiken der Atomenergie aufgezeigt, die skrupellose Profitgier der Stromkonzerne und die Verantwortungslosigkeit der atomkraftfreundlichen Regierungen. Sie hat auch ein Schlaglicht auf die Irrealität unserer alltäglichen Lebensführung in den westlichen Industrienationen geworfen.

Nehmen wir Japan: Ein Land, das seit Jahrzehnten die Mikroelektronik beherrscht, das Millionen von Menschen damit beschäftigt, die Menschheit mit digitalen Spielen, mobilem Internet, elektronischen Zahlungssystemen und anderem Schnickschnack zu beglücken, schafft es nicht, ein sicheres System der Energieversorgung zu errichten. Und offenbar gab es dort bis vor Kurzem kaum jemanden, der sich für diese Fragen interessierte.

Doch Japan ist überall! Denn auch in Deutschland interessierten sich bis vor Kurzem nur wenige ernsthaft für die Risiken der Atomenergie. Nach dem Tschernobyl-GAU ebbte die Protestbewegung rapide ab. Die Blockade der Castortransporte geriet zum alljährlichen Event einer gebildeten Subkultur. Die breite Mehrheit unserer Gesellschaft plagt sich dagegen mit ganz anderen Problemen: mit dem Chatten im Internet, dem persönlichen Auftritt bei Facebook, den Leistungsvergleichen vor dem Kauf eines Navis und den günstigsten Flatrates fürs Handy.

RAINER KREUZER

ist freier Journalist in Hamburg. Er hat an der Uni Lüneburg in der Behindertenpädagogik promoviert und im besetzten Hamburger Gängeviertel das integrative Kulturprojekt "Möglichkeitsräume" gegründet.

Entfremdung im Büroturm

Die Katastrophe in Fukushima ist nur die Spitze des Eisbergs. Sie ist das Symptom einer gesellschaftlichen Entwicklung in den führenden Wirtschaftsnationen der Welt. Die großen, überlebensnotwendigen Fragen treten zunehmend in den Hintergrund menschlichen Denkens und Handelns.

Das hat seine Gründe: In der modernen "Dienstleistungsgesellschaft" lebt der Mensch, von Naturgewalten abgeschirmt, in klimatisierten Bürotürmen und verbringt auch seine Freizeit vor dem Monitor. Der Kontakt zu den natürlichen Bedingungen des Lebens verflüchtigt sich. Sie erscheinen als äußere Selbstverständlichkeiten, die sich der aktiven Beeinflussung entziehen.

Der aufgeblasene postindustrielle Sektor produziert derweil Pseudogüter und Fantasiedienstleistungen: das Design, um die Marke A von der Marke B zu unterscheiden, sogenannte Finanzdienstleistungen, die virtuelles Geld aus einer Datei in die andere verschieben. Kommunikationsberater beraten die Unternehmensberater und lassen ihre Beratungsqualität anschließend evaluieren, um bei einer Zertifizierungsagentur ein Zertifikat zu erwerben. Bestimmt die Hälfte der städtischen Büroflächen könnte man mühelos planieren - und die Menschheit wäre um nichts ärmer.

Kein First Life im Second Life?

Zwischen First und Second Life verschwinden die Grenzen. Was ist virtuell, was materiell? Kommt einem Short-Zertifikat auf den DAX gegenständliche Realität zu, oder ist es reine Fantasie? Bedeutet das Getippe im Chatroom Freundschaftspflege oder nur deren Simulation? Es gibt Leute, die studieren das TV-Programm eifriger als ihren Hartz-IV-Bescheid, weil das Leben vor dem Fernseher mit oder ohne Kürzungen irgendwie weitergeht.

In manchen Fußgängerzonen finden sich kaum noch andere Geschäfte als Handyläden. Der Mensch als Insasse einer entfremdeten Welt begibt sich auf Traumreise. Sein Leben wird zu einem verlängerten Kindergartenaufenthalt, in dem es nie genug Tastaturen gibt, auf denen man spielen kann. Wenn etwas piept oder quietscht, kommt Freude auf.

Je unwichtiger ein Gegenstand für das reale Leben objektiv ist, desto mehr Zeit, Material und Geld verschwendet unsere Gesellschaft für seine Herstellung und Nutzung: Während nur noch 292.500 Menschen damit beschäftigt sind, unser tägliches Brot zu backen, arbeiten in der Werbeindustrie mehr als 550.000 Beschäftigte. Wir können Aktien vom Display unseres Handys aus ordern, aber den künstlich geschaffenen Stress der Arbeit immer weniger bewältigen.

Nach Feierabend Freunde zu treffen, dazu fehlt uns die Muße, weil die Arbeit derart verdichtet ist, dass am Abend das Gehirn seine Schotten dicht macht. Bei der France Télécom sprangen vor zwei Jahren die Mitarbeiter aus Verzweiflung gleich reihenweise aus dem Fenster. Wer acht Stunden am Tag mit kryptischen E-Mails und zermürbenden Meetings traktiert wird, hat danach für Beziehungsdiskussionen keinen Nerv mehr. Die unverbindliche SMS ist das Einzige, was noch geht.

Atomgefahr in weiter Ferne

Das Atomkraftwerk vor der Tür verliert im Spiegel des kolonialisierten Bewusstseins seine Realität - ebenso wie das seit zwei Jahren stattfindende Fallen der Reallöhne und das Steigen der Mieten. Was an sich nah ist, wird fern - was tatsächlich fern oder irreal ist, rückt in betäubende Nähe. Ein "universeller Verblendungszusammenhang" (Adorno) schirmt die Menschen vor dem Realitätsbezug ab.

Die alte Anti-AKW-Bewegung in den 1970er-Jahren hatte diesen Zusammenhang einmal erkannt. Dass der "Konsumterror" verblödet, galt als Binsenweisheit und wurde bald belächelt. Zu Unrecht. Denn damals wusste man, dass es nicht genügt, auf die Straße zu gehen und Bauzäune zu stürmen. Das Leben musste befreit werden von all den nutzlosen Dingen, die die Wahrnehmung trübten.

Bananenkisten genügten völlig, um die Wäsche zu lagern. Die Möbel vom Sperrmüll taten ihren Dienst. Der selbst gestrickte Pullover wie das eigene Kartoffelbeet ermöglichten die Erfahrung, dass der Mensch Produzent seiner eigenen materiellen Lebensbedingungen ist und ansatzweise über sie verfügen kann. Das minimalistische Leben wie einst in den besetzten Häusern gewährte jenen Menschen den heute verlorenen Reichtum, sich um ihre eigenen wie kollektiven Belange tatsächlich kümmern zu können.

Klar, ein Zurück in die "Müsli-Zeit" kann es nicht geben. Doch die Konsequenz aus der Fukushima-Katastrophe sollte ein neuer Realismus sein: Boykottiert die Unterhaltungsindustrie, führt handyfreie Tage ein und entsorgt endlich die Glotze! Nehmt wieder realen Kontakt zu den Menschen und zur Natur auf und gestaltet euer Leben selber - überall da, wo es geht!

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12 Kommentare

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  • DJ
    Dr. Jochen Range

    ja, und jetzt importieren wir jede Menge Atomstrom von Frankreich und Tschechien, weil wegen der überstürzten Panik-Abschaltung die Leitungen nicht reichen, anstatt in vernünftiger Weise den Ausstieg einschließlich der hardware zu planen und zu realisieren.

  • M
    Mirco

    Immer konsequent auf Ökologie und Bio gesetzt. Von der Stadt aufs Land gezogen. Aktiv gegen Castor-Transporte, da sie bei mir vor der Tür entlang fahren. Überzeugter und geplagter Selbstversorger, weil ich wissen möchte was ich esse. Als ich dann vor fünf Jahren meinen gutbezahlten Job in der Medienbranche verließ, wusste ich, dass sich der Schritt für mich persönlich "weiter bingt".

     

    Seit der AKW-Katastrophe in Japan melden sich die alten Leidensgenossen der alten Zeitung und fragen, wie denn das Leben so sei. Ohne Vorstandssitzungen, ohne E-Mail-Terror, ohne perfektes Outfit, ohne Fastfood, ohne Blackberry. Ich schaute an mir herunter: Strickpulli, olle Jeans und Gummistiefel an - dreckig, aber intensiv. Und ehrlich.

  • EL
    Ernst Ludwig Becker

    Immerhin machen sich in Deutschland mehr Menschen Gedanken um die Gefahren der Atomtechnologie und wählen die Regierenden und Atombefürworter ab, als das zum Beispiel die Leute in Frankreich tun. Auch vom Rest der zivilisierten Welt hört und liest man wenig. Sind das Volk der Dichter und Denker da sensibler? Spielen wir weniger mit den Handys?

    Die eine Wirklichkeit die ich und hoffentlich bald alle auf Dauer erkenne ist, dass AKWs tickende Zeitbomben sind und wir uns mit dem Atommüll den Planeten radioaktiv verseuchen.

    Analysieren Sie mal das Verhalten der Franzosen, ich glaub die leben in einer anderen Welt und dort mach ich keinen Urlaub mehr.

    Ernst Ludwig Becker

  • H
    Henner

    Naja ich finde es etwas übertrieben, es soll ja Leute geben die durchaus noch ein reales Leben haben und trotzdem auch das Internet oder Handys nutzen und auch ab und an fernsehen. Man kann z.B. das Netz verwenden um mit Menschen die man aus dem "real life" kennt zu kommunizieren. Also eher eine Erweiterung als eine Ersetzung.

     

    Und das weniger Menschen Brot backen als in der Werbebranche arbeiten hat möglicherweise etwas damit zu tun das Menschen halt nunmal nur eine gewisse Menge essen können, gleichzeitig die Wirtschaft in den letzten Jahrhunderten etwas (ok ich untertreibe) gewachsen ist und gleichzeitig Maschinen diese Arbeit zum Teil enorm erleichtern, d.h. wir können uns mit Zeug befassen was nicht nur unserem direkten Überleben dient was aus meiner Sicht zum Teil durchaus zu begrüssen ist.

  • FB
    Frank Berner

    mögen die Götter gnädig sein und eine schnelle Verbereitung der Ein- und Ansichten dieses umfassend sehr guten Artikels zu erreichen. Dabei bleibt mir dann noch zu sagen, dass merkwürdigerweise die Mauer 1989 ohne Internet, Funktelefon, twitter und facebook zu Fall kam und soweit ich informiert bin, war das bei französischen Revolution auch so? Kleines Rätsel noch zum Abschluss: zwei Menschen gehen gemeinsam spazieren und unterhalten sich dabei. Was ist das ? Mobile Kommunikation......

  • T
    tauss

    Was ist das denn für ein Bullshit? Die Atomindustrie ist ein Mix aus Korruption und Volksverdummung und nicht die gesellschaftliche Folge einer zu geringen Anzahl von Bäckern. Der Widerstand gegen Unfreiheit oder gegen Castor-Transporte klappt um so besser, wo man sich vernetzen kann. Warum bitte wird von Diktatoren in aller Welt im Krisenfall zunächst mal der Handyverkehr unterbrochen und das Internet bekämpft? Die Verbreitung Heiler-Welt-Romanzen dieser Art sind nun wirklich das Allerletzte, was man für die notwendigen Veränderung braucht, die schnell und nicht entschleunigt kommen müssen.

  • A
    Amrey

    Ich bin schon seit 10 Jahren bei Lichtblick und finde US-Fernsehserien toll. Außerdem vernetze ich mich über Facebook zu politischen Aktionen verschiedenster Art - die dann natürlich im wirklichen Leben stattfinden. A propos Natur: da bin ich auch gerne und häufig, da ich leidenschaftlich radfahre. In mindestens einem Urlaub lebe ich zeltend an irgendwelchen Flüssen oder Seen. Irgendwie passe ich nicht in ihr spießiges Retro-Weltbild, Herr Kreuzer ;-)

  • D
    dersüdwesten

    Ein guter Kommentar ...dem ist nichts mehr hinzuzufügen!

  • H
    hto

    "Zurück in die Wirklichkeit" - Paragraph 1: "der Kapitän hat immer Recht". Paragraph 2: "wenn der Kapitän mal nicht Recht hat, tritt automatisch Paragraph 1 in Kraft"!?

     

    Und wer nicht Boot fahren will, der soll es lassen - ist eh schon zu voll, das Boot!?

  • L
    lichtblicke

    grundsatzfragen sind immer spannend. und ich stimme zu: fukushima erinnert an die wirklich wichtigen dinge wie menschliches miteinander anstelle von konkurrenz und der jagd nach ruhm und kohle. schließlich haben wir noch keine vorstellung davon, welche konsequenzen nach dem reaktorenunglück uns noch ins haus stehen. ich fürchte, es wird schlimm.

     

    davon mal abgesehen ist es jedoch zutiefst menschlich, sich atempausen zu verschaffen. kein mensch kann sich rund um die uhr mit der realität auseinandersetzen. eskapismus kann letztendlich schon ein waldspaziergang sein. und gegen den läßt sich doch wohl nix einwenden? ich finde es auch ok, wenn fernsehen bewusst genossen wird, also gezielt konsumiert wird. ein guter film oder eine kontroverse diskussion machen nicht dümmer und können inspiration sein.

     

    aber die fragestellungen finde ich den aktuellen begebenheiten angemessen: sind wir nicht eh am limit des konsumerablen angekommen? wir müssen unseren energieverbrauch runterfahren, wenn es eine zukunft für uns und unseren schönen heimatplaneten geben soll. zwangsläufig werden wir dadurch auf uns selbst zurückgeworfen. darin liegt die chance ad acta gelegte utopien erneut aufzugreifen bzw. neue zu entwickeln. gibt ja schon allerhand fortgeschrittene prozesse in die richtung, bspw. regiogeld, tauschbörsen, autarkes wohnen durch nullenergie-/passivhäuser, alternative lebensformen wie etwa generationsübergreifendes wohnen, diskussion ums bedingungslose grundeinkommen etc.pp.

     

    der shockrocker marilyn manson hat in m. moore's film "Bowling for columbine" gesagt, die us-amerikaner seien so konsumversessen, weil sie große angst hätten. diese diffusen ängste würden von den medien durch hysterische berichterstattung verursacht mit dem ziel, die menschen zu willfährigen, kritiklosen konsumenten zu machen. denn konsum lindert angst.

     

    hoffentlich also, führt die die katastrophe von fokushima nicht zum gegenteil dessen, was wünschenswert wäre.

     

     

    @ stephanie

    das war jetzt ein bisschen off topic, oder?

    also ich habe großen respekt vor den aktiven castor-gegnern, selbstverständlich brauchen wir sichtbaren protest. um anzunehmen, dass die demonstrantInnen aber zu hause atomstrom beziehen, muss frau sie ja für ziemlich bescheuert halten ....

  • S
    Stephanie

    Dass ich mich nicht für die Gefahren der Atomenergie interessiere, wenn ich nicht zu der "gebildeten Minderheit" der Castorblockierer gehöre, dagegen verwahre ich mich auf das Entschiedenste.

     

    Weil ich mich für die Gefahren der Atomenergie interessiere, bin ich mit meinem Privathaushalt Kunde bei einem der vier von der Verbraucherzentrale ausdrücklich empfohlenen Ökostromanbieter.

    Wenn das alle machen würden, dann wäre die Atomindustrie von jetzt auf gleich am Ende.

     

    Und Leute, die diesen Schritt NICHT tun, sich aber politisch irre aktiv und aufgeklärt vorkommen, weil sie Castoren blockieren (und wenn man sich die Kundenzahlen der Ökostromanbieter anguckt, dann kann diese Kombination nicht nur auf eine Minderheit in der Minderheit zutreffen), die können mich mal. Die sollen es mal wagen, den Hals aufzureißen.

    Ach, is ja eh schon deren Hauptbeschäftigung.

     

    So'n bisschen Konsum kann manchmal politisch genau das Richtige sein.

    Man muss sich dabei nur der ultimativen Macht des Kunden bewusst bleiben.

  • V
    vic

    Wenn sich Schwarz-Gelb, oder Schwarz mit X über 2013 retten kann, wird auch Fukushima für Deutschland schon bald Legende zum Gruseln sein. Eine Legende wie Tschernobyl - ohne Konsequenzen, die nicht ohnehin stattfinden müssen.