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Natürlich ist Hilfe möglich

SYRIEN Der Westen stellt sich ohnmächtig, dabei hat er vielfältige Handlungsoptionen jenseits einer Intervention. Ein Leitfaden

Kristin Helberg

■ arbeitet als freie Journalistin und Nahostexpertin. Gemeinsam mit Christian Hanelt hat sie sich mit Syrien im aktuellen „Spotlight Europe“ der Bertelsmann Stiftung beschäftigt: www.bertelsmann-stiftung.de

Syrien versinkt im Krieg: Tote, Verletzte, Flüchtlinge, eine humanitäre Katastrophe. Präsident Baschar al-Assad führt Krieg gegen sein eigenes Volk. Russland und Iran stützen das Regime, der Westen will einen Machtwechsel, ohne militärisch einzugreifen. Die politische Opposition tritt geschlossener auf, ist aber überfordert, und der bewaffnete Widerstand wird zum Teil von Dschihadisten dominiert.

Hoffnungslosigkeit breitet sich aus, dabei gibt es vieles, was getan werden muss – und getan werden kann.

Um den größten Gefahren zu begegnen – der Zerstörung und einem möglichen Zerfall des Landes sowie der Militarisierung und Radikalisierung der Gesellschaft –, braucht die syrische Bevölkerung Hilfe. Diese sollte von der Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte in Absprache mit der Militärführung der Freien Syrischen Armee (FSA) und den lokalen Revolutionsgremien im Land koordiniert werden und vier Bereiche umfassen: 1. humanitäre Hilfe und Wiederaufbau, 2. Organisation des militärischen Widerstands, 3. Übergangsjustiz und 4. alternative politische Strukturen.

Geht in die befreiten Gebiete

1. Die praktische Hilfe für die inzwischen etwa drei Millionen Flüchtlinge muss ausgeweitet und beschleunigt werden. Im Zentrum der Unterstützung sollten die befreiten Gebiete stehen, da viele Syrer dorthin geflohen sind, staatliche Dienstleistungen dort nicht mehr funktionieren und Oppositionelle mit der Versorgung der Bevölkerung überfordert sind. Internationale Geberländer könnten verstärkt mit Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten, die sich bereits in Syrien engagieren und die Lage vor Ort einschätzen können.

Außerdem sollten neu entstandene Strukturen der zivilen Selbstverwaltung unterstützt und anerkannt werden. Die vielerorts gegründeten Revolutionsräte, in denen Aktivisten, Deserteure und freiwillige Kämpfer zusammenarbeiten, wissen, was der Bevölkerung fehlt, und haben im Laufe des Konflikts beachtliche logistische Fähigkeiten entwickelt.

Eine funktionierende öffentliche Ordnung, spürbar bessere Lebensbedingungen und berufliche Perspektiven für die Nachkriegszeit entziehen radikal-islamischem Gedankengut den Nährboden und werden entscheidend zur Befriedung des Landes beitragen.

2. Möglichst schnell sollte die FSA mithilfe der Nationalen Koalition zentrale Kommandostrukturen aufbauen, aus denen eine zukünftige Militärführung und ein Verteidigungsministerium hervorgehen könnten. Nur wenn der Hohe Militärrat, ein Zusammenschluss verschiedener Brigaden, die zur Zusammenarbeit mit der Nationalen Koalition bereit sind, mehr Geld und bessere Waffen erhält, kann er sich dschihadistischen Gruppen gegenüber behaupten und weitere Rebelleneinheiten an sich binden.

Ziel muss es sein, den bewaffneten Widerstand schrittweise einer politischen Kontrolle zu unterstellen, damit ein Ende des Assad-Regimes auch das Ende der Kämpfe bedeutet.

Amnestie für Assad-Anhänger

3. Um den Weg für gesellschaftliche Versöhnung und ein zukünftiges Zusammenleben aller Konfessionen und Ethnien zu ebnen, bedarf es einerseits der schnellen Verurteilung und schweren Bestrafung der Hauptverantwortlichen für staatliche Gewalt und andererseits einer Amnestie für die Mehrheit der Assad-Anhänger. Je früher die Opposition Pläne für eine Übergangsjustiz vorlegt, desto besser.

Ein gesetzlicher Rahmen muss den Minderheiten, insbesondere den Alawiten, garantieren, dass der Kampf gegen das Assad-Regime kein Vernichtungsfeldzug gegen Alawiten oder Andersgläubige ist und dass diese auch in einem zukünftigen Syrien ihren Platz haben werden.

Zum jetzigen Zeitpunkt könnte ein solcher Plan die Rechtsprechung in den befreiten Gebieten vereinheitlichen, die schweigende Masse der Syrer davon überzeugen, dass es der Opposition mit dem Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen ernst ist und Mitglieder des Regimes zum Überlaufen motivieren.

Schützt den Staat

Im Zentrum der Unterstützung sollten die befreiten Gebiete stehen, da viele Syrer dorthin geflohen sind

4. Die Nationale Koalition sollte eine provisorische Regierung bilden, die schrittweise die Verwaltung in den befreiten Gebieten übernimmt. Nur so kann sie Vertrauen in oppositionelle Institutionen aufbauen, zum glaubwürdigen Ansprechpartner internationaler Geberländer werden und damit die entscheidende Frage beantworten, was nach Assads Sturz kommt.

Da eine funktionierende Bürokratie für die Übergangsphase grundlegend ist, muss ein Zusammenbruch staatlicher Strukturen verhindert werden. Millionen Syrer leben von Beamten-Gehältern und sind von öffentlichen Dienstleistungen abhängig. Nur eine gut vorbereitete Opposition kann garantieren, dass Institutionen sich im Moment eines Machtvakuums nicht auflösen, sondern weiterarbeiten und sozialverträglich reformiert werden.

Eine provisorische Regierung könnte als Vorstufe zu einer Übergangsregierung der nationalen Einheit dienen. Diese sollte sich aus glaubwürdigen Vertretern der Revolution und der Opposition, gesellschaftlichen Integrationsfiguren und führenden Repräsentanten des Regimes, die nachweislich nicht an Gewaltverbrechen beteiligt waren, zusammensetzen. Bei ihrer Auswahl sollte nicht die religiöse Repräsentanz im Vordergrund stehen, sondern persönliche Integrität und zivilgesellschaftliche Verankerung. Ein konfessionelles Proporzsystem wie im Libanon gilt es in Syrien zu verhindern.

Da die Zeit drängt, sollten die Empfehlungen umgehend und gleichzeitig umgesetzt werden. Je länger der Konflikt andauert, desto unwahrscheinlicher werden ein geordneter Übergang und eine Befriedung des Landes und desto größer ist das Risiko, dass Syrien in dauerhaftem Krieg versinkt und die Region insgesamt destabilisiert. Um den politischen Wechsel zu beschleunigen, muss der militärische und diplomatische Druck auf Assads unmittelbaren Machtzirkel steigen, die Nationale Koalition gestärkt werden und internationalen Unterstützern, vor allem Russland, verdeutlicht werden, dass eine von Syrern gestaltete Übergangslösung ohne Assad im Interesse aller ist. KRISTIN HELBERG

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