Wahlzeit in Nigeria: Rache für den toten Sektenführer

Einschüchterungen der Wähler durch Bombenanschläge und Unruhen gehören zum Alltag im Bundesstaat Borno. 2007 starben bei den Wahlen 200 Menschen.

Hauptstadt Maiduguri: Polizisten liefern sich Straßenkämpfe mit der islamischen Sekte Boko Haram. Bild: ap

MAIDUGURI taz | Die zahlreichen Wahlposter und Parteiflaggen in den Straßen Maiduguris sind von einem Schmutzfilm überzogen, der durch die Abgase der unzähligen Motorradtaxis zustande kommt. Feiner Staubsand legt sich über die Porträts der Kandidaten. Im Schatten eines Schutzdaches neben der Straße lümmelt eine Gruppe junger Männer herum. "Wir nehmen jeden kleinen Job, der sich uns bietet", sagt einer von ihnen. Die Männer gehören zu der Heerschar von Arbeitslosen in Maiduguri, der mehrere Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt des nigerianischen Bundesstaates Borno. Früher gab es hier Arbeit in der leichten Industrie, zum Beispiel bei der Verarbeitung von Baumwolle und der Herstellung von Lederschuhen. Aber schon seit Jahren sind die Fabriken zu.

Dafür rekrutieren jetzt kriminelle Banden, extremistische religiöse Sekten und Politiker ihre Leute unter den vielen Arbeitslosen und Armen. Gewalt gibt es hier jeden Tag. Vor allem jetzt. Es ist Wahlzeit in Nigeria. Das heißt: Einschüchterung, um die Wähler zu beeinflussen; bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Parteien; Bombenanschläge, Unruhen. Bei den Wahlen 2007 starben über 200 Menschen. Diesmal starben schon vor Beginn der Wahlen zahlreiche Menschen bei Anschlägen, auch in Maiduguri.

Bornos Provinzgouverneur Ali Sheriff gehört der konservativen ANPP (All Nigeria Peoples Party) an, die in Opposition zur Regierung von Präsident Goodluck Jonathan steht. Ihre Anhänger und Aktivisten sowie Polizisten, traditionelle Führer und gemäßigte Imame sind das Hauptziel der Anschläge, die von jungen Männern auf Motorradtaxis, den sogenannten Okadas, verübt werden - auf ihnen kann man blitzschnell in der Menge untertauchen. Der ANPP-Jugendführer in Borno wurde bei einem solchen Anschlag Ende März erschossen.

Der Wahlmonat: Am 9. April 2011 wurde das Parlament neu gewählt, am 16. April steht der Präsident an und am 26. April die Gouverneure und Parlamente der 36 Bundesstaaten. Seit dem Ende der Militärdiktatur 1999 regiert in Nigeria die PDP (Peoples Democratic Party). Goodluck Jonathan, der 2007 zum Vize von Präsident Umaru Musa YarAdua gewählt wurde, übernahm das höchste Staatsamt 2010 und will jetzt vom Volk gewählt werden.

Parlamentswahlen: Ersten Teilergebnissen zufolge hat die PDP kräftig Stimmen verloren, bleibt aber stärkste Kraft. Bis Montag nachmittag lag sie bei 49 Prozent der Stimmen, gegenüber 77 vor vier Jahren. Aber auch die im Norden verankerte ANPP (All Nigeria Peoples Party) schrumpft. Neu gegründete Parteien sowie der in Lagos starke Action Congress (ACN) sind die Gewinner dieser Wahl. Die PDP schlägt jetzt den anderen Parteien eine gemeinsame Regierung vor. (d.j.)

"Sie nehmen Rache im Namen von Boko Haram", sagt Ahmad Alkida. Der Journalist ist ein Kenner der islamistischen Sekte, die im Jahr 2009 in Maiduguri den bewaffneten Aufstand probte. Das Militär stürmte schließlich das Sektenhauptquartier, in dem die Islamisten zahlreiche Geiseln genommen hatten; mehrere tausend Menschen kamen bei den fünftägigen Kämpfen ums Leben. Sektenführer Mohammed Yusuf wurde verhaftet und in Polizeigewahrsam getötet.

Die Sekte Boko Haram verbietet westliche Bildung

Auch Journalist Ahmad Alkida wurde damals verhaftet; man verdächtigte ihn der Mitgliedschaft in der Sekte, weil er gute Kontakte zum Sektenführer und öfters über die Bewegung berichtet hatte. "Boko Haram" bedeutet im nordnigerianischen Haussa "Bücher verboten" - damit ist die westliche Bildung gemeint. Yusuf machte das Bildungssystem der westlichen Welt für Armut und Hoffnungslosigkeit verantwortlich. "Er sah, dass die Führer Nigerias im Westen ausgebildet wurden, dann sehr korrupt wurden und nur in die Politik gingen, um sich selbst zu bereichern", analysiert Journalist Alkida. "Wenn Arbeitslosen alle Hoffnung fehlt, bleibt ihnen kaum mehr als ihr Glauben an Gott. Deshalb sind Sekten wie Boko Haram so populär, weil sie immerhin etwas anbieten."

Besonders viel Zulauf erhielt die Sekte damals, als der Provinzgouverneur infolge einer Gesetzesänderung in Nigeria verfügte, dass die Okada-Fahrer Helme zu tragen haben und ihre Taxis anmelden müssen. Okadafahren ist eine der wenigen Arbeitsmöglichkeiten, die einem jungen Mann in Maiduguri offenstehen, und gerade deswegen gibt es viel zu viele Okadas und verdienen ihre Fahrer viel zu wenig. Viele Betroffene konnten sich keinen Helm leisten und auch keine Steuern zahlen. Sie wandten sich Boko Haram zu. Ihr Führer Mohammed Yusuf beschloss im Juli 2009, dass seine Bewegung jetzt groß genug sei, um einen Dschihad anzufangen, und seine Lehre unter allen Muslimen Nigerias zu verbreiten.

"Ich hatte Glück"

Ahmad Alkida, der Journalist, wurde kurz nach dem Scheitern des Islamistenaufstandes festgenommen. "Ich sah, wie der Gouverneur ein Haus besuchte, in dem Boko-Haram-Mitglieder festgehalten wurden. Er befahl der Polizei, die Sektenmitglieder fertigzumachen", erinnert sich Alkida. Er musste seine Zelle mit mehr als 50 anderen Häftlingen teilen. "Die meisten wurden vor unseren Augen hingerichtet. Dann bekam ich den Befehl zu rennen. Ich wusste, sie würden mir in den Rücken schießen, und dann sagen, ich hätte versucht zu fliehen. Aber ich hatte Glück, weil gerade ein Kommandant vorbeikam, den ich kannte. Er hat mir das Leben gerettet. Ich wurde später freigelassen. Ohne Prozess, weil es selbst der Polizei klar war, dass ich mit Boko Haram nur aufgrund meiner Arbeit zu tun hatte."

In Maiduguri sind die Ereignisse von 2009 noch schmerzhaft in Erinnerung. Boko Haram ist weiter sehr aktiv. Seit dem vergangenen Sommer gab es erneut Anschläge. Im Februar 2011 forderte Boko Haram den Rücktritt von Bornos Gouverneur und die Rückgabe ihrer Moschee in Maiduguri. Die Provinzregierung lehnte ab. Seitdem dient der Wahlkampf als Forum für Racheakte.

Provinzgouverneur Ali Sheriff hat schon zwei Amtszeiten hinter sich, mehr erlaubt die Verfassung nicht. Er kandidierte jetzt bei den Parlamentswahlen für den Senat, das Oberhaus des nigerianischen Parlaments. Aber er fiel durch. Als der Sieg seines Rivalen von der in Nigeria regierenden PDP (Peoples Democratic Party) bekannt wurde, zogen Tausende Okada-Fahrer hupend durch die Straßen von Maiduguri. "Wir sind glücklich", sagte einer: "Wir haben so gelitten unter den Sicherheitsdiensten, die uns ausrauben."

Jetzt könnte die ANPP auch den Gouverneursposten in Borno verlieren, für den Sheriff erst seinen Bruder aufstellte, dann aufgrund von Protesten seinen Finanzminister und schließlich nach dessen Ermordung einen jungen Banker.

"Einer der flüchtigen Führer von Boko Haram hat gesagt, die Gewaltwelle werde enden, wenn in Borno eine andere Partei als die ANPP an der Macht kommt", sagt Alkida. "Viele Leute setzen deswegen ihre Hoffnung auf einen älteren Kandidaten, der schon mal Gouverneur war und viel Gutes für Borno getan hat: zum Beispiel Krankenhäuser und Straßen bauen." Er spricht von Mohammed Goni, der Borno bereits vor 30 Jahren regierte und jetzt im Alter von 70 Jahren für die PDP ins Rennen geht.

Die Hauptstadt Maiduguri verwandelt sich abends in eine Geisterstadt

Seit 2009 ist Maiduguri am Abend eine Gespensterstadt. Die Behörden haben den Okadas aus Sicherheitsgründen verboten, im Dunkeln zu fahren. Die Fahrer verdienen dadurch noch weniger als vorher. Die Geschäfte schließen früher, weil es an Kunden fehlt. Aufs Auto verlegen sich nur wenige, weil das bedeutet, womöglich Dutzende von Polizeisperren zu passieren. Groß ist die Gefahr, für einen Anhänger der Islamisten gehalten zu werden. Die Bevölkerung bleibt lieber zu Hause, sie fürchtet die Polizei mindestens ebenso wie die Boko Haram.

Die Nigerianer sehen sich zunehmend zwischen den Fronten krimineller Banden und staatlicher Gewalt gefangen - und das gilt für das ganze Land. In vielen Regionen formierten sich seit Ende der Militärdiktatur 1999 bewaffnete Gruppen, die gegen die Willkür der Staatsorgane Widerstand leisten. Am bekanntesten sind die Rebellen im ölreichen Niger-Flussdelta im Süden des Landes. Sie behaupten, Gewalt nur einzusetzen, um einen Teil des Öleinkommens für die meistens sehr arme lokale Bevölkerung abzuzweigen. Jede Sekte oder Bande in Nigeria rechtfertigt ihren Kampf mit den jeweiligen lokalen Missständen.

"Das ist alles eine Reaktion auf das Scheitern der Demokratie seit 1999", erklärt Mohammed Wuyo, Menschenrechtsaktivist und Koordinator des "Electoral Reform Network" im Nordosten Nigerias. "Es gab damals so viel Hoffnung. Die Nigerianer dachten, jetzt wird alles besser. Aber sie haben schnell entdeckt, dass die Politiker nur sich selber bereichern wollen. Boko Haram ist eine lokale Antwort auf ein nationales Übel."

Das Treffen mit dem Aktivisten Wuyo ist lebensgefährlich

Mohammed Wuyo ist zum Treffen nur im Schutz eines Hotels bereit. Wenn er mit Außenstehenden gesehen wird, könnten Polizei wie auch Boko Haram das falsch verstehen. Der Aktivist zeigt Bilder auf seinem Handy, auf denen zu sehen ist, dass sein Leben bedroht wird. "Es ist auch besser für Sie, wenn Sie nicht mit mir gesehen werden", sagt er.

Seiner Familie hat Wuyo die Bilder nicht gezeigt, damit sie sich keine Sorgen um ihn macht. "Ich muss meine Arbeit fortführen. Die Außenwelt muss wissen, was los ist. Wir müssen mit der Polizei und mit den Milizen reden, um ihnen zu erklären, dass Gewalt nichts löst", sagt er. Bevor er sich verabschiedet, sagt er noch in beschwörendem Ton: "In Maiduguri, in Borno, in Nigeria brauchen wir Politiker, die nicht nur an ihren eigenen Vorteil denken. Wir brauchen Menschen, die verhindern, dass unser Land scheitert."

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