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Prozession im SpessartDie Hydrauliker tragen Jesus

In Lohr am Main sind die Prozessionsstationen am Karfreitag den Zünften zugeordnet. Eine Herausforderung, denn wohin mit den Informatikern?

Hydrauliker und IT-Spezialisten tragen die „Gefangennahme Jesu“. Bild: dpa

Karfreitagmorgen um Viertel nach zehn sieht man in Lohr viele Menschen in dunklen Mänteln durch die Gassen laufen. Aus den Hotels des kleinen Städtchens im Spessart strömen die Gäste in Richtung Hauptstraße. Autos aus Würzburg, Frankfurt und München rangieren auf den Parkplätzen am Main an den Übertragungswagen des Bayerischen Rundfunks vorbei. Kurz vor halb elf hasten noch ein paar Fotografen mit schweren, schwarzen Umhängetaschen in die Innenstadt.

Um halb elf stehen alle in mehreren Reihen hintereinander vor den Fachwerkhäusern an der Hauptstraße. Dann beginnt: die Stille. Lautlos tragen Lohrer Bürger in schwarzen Anzügen hölzerne Figuren und ein Kreuz durch die Innenstadt und auf die Michaelskirche zu. Es sind die Stationen des Kreuzwegs und einige weitere biblische Geschichten dargestellt. Zu Beginn herrscht Totenstille. Dann spielt eine Blaskapelle Trauermärsche. Wenn sie verstummt, schlägt eine Trommel im Takt der Schritte. Die Karfreitagsprozession in Lohr existiert seit 360 Jahren.

Joachim Salzmann schließt die Tür zu einer kleinen Kapelle neben der Michaelskirche auf. Der Urlohrer mit Bart und Brille ist Vorsitzender des Fördervereins der Karfreitagsprozession. In der düsteren kleinen Kirche stehen die Figuren an der Wand, die sie am Karfreitag durch die Innenstadt tragen: der betende Jesus am Ölberg, die Pieta, die Geißelung Christi, das Kreuz. Salzmann setzt sich auf eine Kirchenbank und erklärt, dass jede Station, die dargestellt ist, seit 1656 von einer Lohrer Handwerkerzunft getragen wird.

Die Schreiner, Glaser und Drechsler stemmen den hölzernen Jesus am Ölberg die Hauptstraße herunter. Wagnern, Schmieden und Schlossern liegt der gefangene Christus auf dem Rücken. Die Bäcker schultern das Grab Jesu. So war es lange Zeit. Das System funktionierte, solange es Zünfte gab, die sich um die Figuren kümmerten. Und solange noch Schmiede, Glaser und Drechsler in Lohr arbeiteten.

Doch das Aussterben der alten Berufe führt immer wieder zu Schwierigkeiten. Im Moment gibt es bei den Trägern der Station „Verspottung Christi“ Nachwuchssorgen. Für sie sind traditionell die Seiler, Häfner und Scherenschleifer verantwortlich. „Der letzte Vertreter der Familie, die die Station betreut hat, ist gestorben“, sagt der ehemalige Finanzbeamte. Im Förderverein haben sie sich gefragt, welche modernen Berufe zu den alten Zünften passen könnten. Nach längerem Grübeln haben sie beschlossen, Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger zu bitten, die Station zu tragen. „Ob jemand von ihnen kommt, werden wir am Karfreitag sehen.“

Vor einigen Jahren haben sie nach einem Ersatz für die Figur der Schlosser und Schmiede gesucht. Das Personal fand sich bei Rexroth, dem größten Arbeitgeber am Ort. Das Unternehmen gehört zur Bosch-Gruppe und stellt Antriebs- und Steuerungstechnik her. „Das war überhaupt kein Problem“, so Salzmann. Seitdem tragen Mechatroniker, Hydrauliker und IT-Spezialisten die „Gefangennahme Jesu“.

Wenn man den 53-Jährigen fragt, warum der Förderverein denn angesichts des Nachwuchsmangels nicht einfach alle Lohrer einlädt, mitzumachen, antwortet er: weil das nicht nötig ist. Die Einbindung neuer Träger sei „informeller Natur“. Normalerweise entscheiden die Obleute, einer je Station, wer seine Figur trägt und hinter ihr herläuft.

Einer von ihnen ist mit seinem dunkelblauen VW vorgefahren, knüpft seinen grauen Anzug zu und fährt sich kurz durchs grau melierte Haar. Michael Schecher arbeitet bei der örtlichen Sparkasse, für die er heute einige Kunden besuchen muss. Ob er Lohrer sei? „Durch und durch“, sagt er zur Begrüßung. Er hat das Amt des Obmanns von seinem Vater geerbt, der als Wagner arbeitete. Wenn er neue Träger sucht, kommt es ihm auch auf deren innere Haltung an. „Wenn sie klagen, der Rücken würde ihnen vom Tragen wehtun, sage ich ihnen: Das ist kein Spaziergang, das ist ein Kreuzweg. Der muss wehtun.“

Für Schecher ist das Ganze selbstverständlich eine katholische Veranstaltung. Die Gretchenfrage lautet für den 53-Jährigen: „Akzeptiert der Träger die Glaubenslehre der katholische Kirche?“ Joachim Salzmann sieht das anders. Jeder dürfe mitmachen, dem die Prozession am Herzen liege: Er wünscht sich, dass in den nächsten Jahren der protestantische Pastor ein Gebet bei der Schlussandacht spricht. Bis jetzt dürfen die evangelischen Geistlichen zwar mitlaufen, werden aber nicht beteiligt. Und er gibt zu: „Ich bin selbst kein besonders aktiver Kirchgänger.“

Noch offenherziger zeigt sich Pfarrer Sven Johannsen von der Gemeinde St. Michael, an die die Prozession angegliedert ist. „Es spielt keine Rolle, ob die Träger aus der Kirche ausgetreten oder vielleicht sogar Buddhisten sind“, erklärt der 38-jährige vollschlanke Priester. Wieder anders interpretiert es Bärbel Imhof, die zweite Lohrer Bürgermeisterin von den Grünen: „Die Prozession kommt von den Zünften und ist nichts Kirchliches.“

Auch in Detailfragen haben die Beteiligten völlig unterschiedliche Ansichten, etwa wenn es um das sogenannte Kreuz unserer Zeit geht. Das vier Meter hohe schlichte Holzkreuz hat ein Pfarrer 1961 in den Zug aufgenommen. Auf ihm stehen mit weißer Farbe Begriffe geschrieben, die der Priester für die größten Übel hielt: „Hass“, „Hunger“, „Spaltung“, „Lauheit“.

Pfarrer Johannsen könnte sich neue Begriffe auf dem Kreuz vorstellen, „Einsamkeit im Alter“ oder „Ungleichheit“ hält er für aktueller. Schecher sieht keinen Handlungsbedarf: „Für mich sind das dauerhaft gültige Begriffe.“ Bärbel Imhof teilt diese Meinung, kann sich allerdings auch neue Figuren vorstellen.

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