TV-Utopie Kinder an die Macht: Mit dem Skateboard ins Amt
Die kanadische Fernsehserie "Majority Rules - Becky regiert die Stadt" spielt die Wunschvorstellung vieler Kinder durch. Und zwar ohne erhobenen Zeigefinger. Werktags ab 20.10 Uhr, auf Kika.
BERLIN taz | Auf dem Boden verteilen sich Pizzareste und ein angebissener Toast inmitten eines Tohuwabohus aus Notebook, Malkasten, Wäscheteilen, Skater-Utensilien. Offensichtlich wurde das von der Wand herab mahnende Warnschild "No Slacking Any Time" sträflich ignoriert. Um acht Uhr fünf zirpt der Wecker, von draußen sorgt ein Aufruf in polizeilichem Drohton für Nachdruck.
Becky Richards (Tracy Spiridakos) springt aus dem Bett, tritt in Chipstüte und Einweggeschirr, stolpert über ein Keyboard, rupft nach hektischen Fehlversuchen eilig saubere Kleidung aus dem Schrank, lässt sich im Vorübergehen vom Bruder mit einem Müsliriegel versorgen und vom Vater in die Jacke helfen und flitzt durch die Tür, einem weiteren Tag im "Mayfield Schmalspur-Schulgefängnis" entgegen, wie Klassenkameradin Margo (Jenny Raven) sich ausdrückt.
Und doch kommt Becky genau die eine Sekunde zu spät, die sie die Teilnahme an einem Test kostet.
Das Versäumnis wird Folgen haben. Herausgefordert durch eine schnippische Schulkameradin, spielt Becky mit dem Gedanken, als Bürgermeisterin zu kandidieren. Diese Möglichkeit besteht, das Alter der Bewerber ist nicht festgelegt.
Simsalabim, dreimal schwarzer Laptop - schon hat Margo die Online-Kandidatur abgeschickt. Und weil der Gemeinschaftskundelehrer verspricht, sie nicht durchfallen zu lassen, sofern sie einen seriösen Wahlkampf führt, stürzt sich die Zuspätkommerin nach anfänglichem Zögern mit Feuereifer in die Lokalpolitik.
Wenn der Teenager Becky Richards in der kanadischen Serie "Majority Rules - Becky regiert die Stadt" aus eigener Erfahrung basale Regeln der repräsentativen Demokratie kennen lernt, aber auch erfahren muss, dass eine lange Stadtratssitzung schon mal die Teilnahme an der Geburtstagsfeier der besten Freundin verhindert, dann ist selbstredend ein Lerneffekt beabsichtigt.
Dabei bleibt der Zeigefinger unten, die Kommunalpolitik ist ein Abenteuerland, das bei aller Beanspruchung noch Raum lässt für Detektivspiele, Flirts und Seitenhiebe auf Eltern und Lehrer. Die Erzählform ist schnell und kess nicht nur in den Dialogen, sondern auch in der Verwendung tricktechnischer Elemente zur frechen Pointierung des Geschehens.
"Majority Rules" erweitert damit das Angebot des Kikas an Serien, die den Zuschauerinnen und Zuschauern im Teenageralter lebensweltliche Anknüpfungspunkte bieten, aber die Pfade des Gewohnten zugunsten märchenhafter Arrangements verlassen. In "Elephant Princess" wird eine 16-Jährige aus dem heutigen Melbourne zur Herrscherin über ein orientalisches Königreich, in der Reality-Soap "Die Mädchen-WG" leben fünf Halbwüchsige vier Wochen lang in einer geräumigen Villa.
In allen diesen Serien erfüllen sich traumhafte Vorstellungen, aber immer gerät die Utopie früher oder später in Konflikt mit der Realität. Prinzessin Alex sieht sich den rigiden Regeln des höfischen Zeremoniells unterworfen, die ihr kaum noch Freiheiten lassen.
Die multikulturell besetzte Mädchen-WG genießt zunächst einmal alle Freiheiten, die Bewohnerinnen realisieren aber schnell, dass ihr Alltag organisiert werden muss – bis hin zum mit mulmigen Gefühlen absolvierten Besuch beim Frauenarzt.
Auch die Ursachen von Konflikten sind hier ein prominentes Thema und ebenso deren einvernehmliche Lösung. Solche Reality-Soaps, in denen spielerisch und für begrenzte Zeit, also ungefährdet, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen experimentiert werden kann, sind mit einer Reise vergleichbar, die im besten Falle hilft, den Horizont zu erweitern.
Becky aus "Majority Rules" tobt erst übermütig durch ihr neues Büro und freut sich auf einen lauen Job. Bis ihr ein Stapel Verwaltungsakten auf den Tisch gepackt wird, neben dem sich die Schularbeiten wie ein Klacks ausnehmen. Übrigens sind auch Beckys Freunde unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Aber das ist gar kein Thema, das ist völlig normal.
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