Die 18-Uhr-Demo und ihre Teilnehmer: Revolution und so
Schon kurz nach Beginn der Revolutionären 1.-Mai-Demo gibt es Randale. Wer gehört zu den zehntausend Teilnehmern? Die taz hat sich umgesehen.
Es beginnt fünfsprachig. Klar, hier geht es um die viel beschworene internationale Solidarität. Eine Sprecherin begrüßt die vielen tausend Demonstranten auf der Kottbusser Brücke zunächst auf Deutsch. Es gehe gegen Ausbeutung, gegen Rassismus, gegen das System dahinter, den Kapitalismus. Es folgen ähnlich lange Ansprachen auf Türkisch und Englisch. Ein Satz auf Französisch. Auf Spanisch reicht es nur noch für "Viva la revolución!"
Ein junger Mann mit Basecap in der Menge hält eine Sprechblase aus Pappe hoch. "Sprüche helfen hier nicht weiter …" steht darauf. Es müsse schon ein Generalstreik sein, erklärt er auf Nachfrage. Dafür würde es mal wieder Zeit, den letzten habe es 1948 gegeben. Für utopisch hält er das nicht. "Eine Menge Leute sind angepisst", meint er. Und Klassenkampf gebe es bereits. Nur werde er von oben geführt.
Ähnlich argumentieren hier viele. "Ich sehe Obdachlose am S-Bahnhof, Armut am Hermannplatz, ich habe keine Kohle, meine Eltern auch nicht", sagt ein Mann, der mit Flyern für den "Marx iss muss"-Kongress wirbt. Er studiert Geoökologie. Da gehe es um Klimawandel und so. Dagegen helfe nur radikale Veränderung. Das findet auch ein junges Paar mit Hund. "Revolution und so" sei der Grund, warum er gekommen ist, sagt der Tischler-Azubi. Seine Freundin nickt. Er sei Antikapitalist. Das beginne schon bei den kleinen Dingen. Beim Kaffeekauf etwa achte er darauf, dass der fair gehandelt sei. Später fügt er hinzu: "Berlin bräuchte viel mehr Skaterbahnen!" Wenn es nur einen Platz dafür gäbe, würde er sich sofort um das notwendige Holz kümmern.
Ein paar Meter weiter steht die "anarchosyndikalistische Jugend". Sie fordert den Ersatz des Parteiensystems durch Arbeiterselbstorganisationen. "Das erreichen wir durch direkte Aktionen, wilde Streiks …" Der junge Mann im Teenageralter stockt. "Du hast die Boykottaktionen vergessen", erklärt seine kaum ältere Begleiterin. Es gehe um Arbeiterkollektive wie 1936 in Barcelona. Oder bei den Zapatisten in Mexiko. In der Schule, sagt ein Dritter, lerne man das nicht.
Dann geht es los. "Jalla, jalla" ertönt es vom Lautsprecherwagen. Im Laufschritt geht es Richtung Hermannplatz. Die Anspielung auf die Revolutionen in Nordafrika ist nicht nur ein aufgesetztes ideologisches Geschwafel. Viele Demoteilnehmer erzählen, dass ihnen die Ereignisse in Ägypten und Tunesien Hoffnung machten. Eine Frauengruppe fordert "Solidarität mit den kämpfenden Frauen" in 25 Ländern von Westsahara bis Iran, die alle auf ihrem Transparent stehen. Ein Kenianer mit lila Hemd ist allein gekommen. Er will mehr Rechte für Flüchtlinge. Und internationale Solidarität.
Einer nimmt die Sache nicht so ernst: Ein Kunststudent aus Wien steht mit Plakat am Hermannplatz. "Ich habe heut Geburtstag" steht darauf. 25 wird er. Seine Freunde hätten die Fahrt organisiert. In Berlin gebe es ja jedes Jahr eine große Party für ihn. Jetzt warte er auf seinen persönlichen Demoblock, der solle ihm den Kuchen bringen.
Doch die große Mehrheit ist nicht zum Vergnügen gekommen. Die Grundstimmung ist aggressiv. Schaufenster von Banken werden eingeworfen. Die Polizei, die sich erst kaum zeigt, gibt ihre Zurückhaltung auf. Auf der Werbellinstraße werden heranrückende Beamte von einem Steinhagel eingedeckt. Immer wieder ziehen Greiftrupps einzelne Demonstranten heraus. Dann wird die Demonstration vom Anmelder für aufgelöst erklärt. Da ist der Zielplatz, der Südstern, noch weit weg. Ein angehender Jurist mit Sonnenbrille, Basecap und schwarzem Pulli springt als Ansprechpartner ein. Er wolle, dass die Leute nach Hause kämen und nicht in die Gefangensammelstelle.
Am Hermannplatz wieder Gerangel, Festnahmen, Pfefferspray. Bei Redaktionsschluss ziehen tausende durch den Graefekiez. Die Stimmung ist äußerst angespannt.
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