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Islamexperte über revoltierende Araberinnen"Heirat und Kinder reichen nicht"

Geschlechterrollen verändern sich auch in Nordafrika – deswegen sind Frauen aus den Aufständen nicht wegzudenken. Ein Gespräch mit dem Islamwissenschaftler Reinhard Schulze.

"Die Revolutionen sind städtisch, jung und weiblich": Frauen in Kairo im März 2011. Bild: dapd
Stefan Reinecke
Interview von Stefan Reinecke

taz: Herr Schulze, welche Rolle spielen Frauen in den arabischen Aufständen?

Reinhard Schulze: Ohne sie hätten diese Revolten gar nicht diese Durchschlagkraft. Das gilt für Ägypten, auch für den Jemen. Das hängt damit zusammen, dass Frauen in diesen Gesellschaften, anders als noch in den siebziger Jahren, in erheblichem Maße am öffentlichen Leben teilnehmen. Deshalb sind sie heute auch Teil der Aufstände.

Was hat sich Ihrer Beobachtung nach seitdem verändert?

Der Schlüssel ist die Berufstätigkeit der Frauen. Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) sind etwa 40 Prozent der Frauen in den arabischen Gesellschaften erwerbstätig. In den siebziger Jahren waren es unter sechs Prozent. Das ist eine massive Veränderung. Viel höher ist das Erwerbsniveau in den westlichen Industriestaaten auch nicht.

Wie kam es zu dieser Veränderung?

Teilweise wegen der Migration. Die Frauen haben Arbeitsplätze eingenommen von Männern, die ausgewandert sind. Interessant ist, dass Frauen sehr stark bei den leitenden Angestellten vertreten sind. Dass Frauen höhere Positionen bekleiden, ist in Ägypten und Tunesien sehr ausgeprägt, aber auch im Iran. Die Revolutionen, von Tunesien bis zum Jemen, sind städtisch, jung und weiblich. Die Bewegungen sind, was die Geschlechter betrifft, sehr ausgeglichen.

Ist das Bild von der unterdrückten, ins Private verbannten arabischen Frau eine europäische Projektion?

Wer arbeitet, hat andere Lebenspläne. Heirat und Kinderkriegen reichen nicht. Mit der Erwerbsarbeit wird eine soziale Identität jenseits der klassischen Familienrolle möglich. Das ist der Hintergrund, warum sich so viele Frauen in diesen Ländern an den Aufständen beteiligen, die ja soziale Revolten sind.

Sind die Bewegungen so wenig religiös gefärbt, weil so viele Frauen dabei sind?

Ja und nein. Die islamistischen Bewegungen, etwa die Muslimbrüder in Ägypten, haben versucht, die wachsende Präsenz der Frauen in der Öffentlichkeit zurückzudrängen. Doch viele Frauen nutzen den Islam ihrerseits heute als Legitimation, um an der Öffentlichkeit teilzunehmen. Darin steckt das Motiv, sich nicht mehr den Männern, sondern nur dem Islam unterzuordnen.

Gehen Sie so weit zu sagen: Die Frauen fühlen sich dort nicht vom Islam unterdrückt?

Religiös drangsaliert fühlen sich häufig Migrantinnen in Europa, aber auch Frauen in der Türkei. Wer mit Frauen in den arabischen Ländern redet, bekommt jedoch oft anderes zu hören: Unterdrückt fühlen sie sich nicht vom Islam, sondern vom Militär, den Parteien, der Männergesellschaft, die sie ausschließt.

dapd
Im Interview: 

Professor: Reinhard Schulze, geb. 1953, ist Direktor des Instituts für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern, Schweiz

Autor: Er veröffentlichte u. a. "Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert" (C. H. Beck)

Der Islamforscher Olivier Roy sagt, dass die Protestbewegungen "de facto in einem säkularen politischen Raum" stattfinden.

Die Islamisten waren der Konterpart der autokratischen Regime. Beide haben sich gegenseitig gebraucht. In dem Moment, in dem plurale Ordnungen entstehen, ist dieses Spiel zu Ende. Den Islamisten fehlt das Feindbild - und damit auch Legitimität. In den Augen der jungen Generation, der Akteure der Revolte, sind die Islamistenverbände Teil der alten Ordnung, von der sie sich befreien wollen.

Hat Sie die gleichzeitige Eruption von Aufständen nach Jahrzehnten der Stabilität überrascht?

Es war klar, dass es in diesen Gesellschaften viele Widersprüche gibt, die irgendwann zum Ausdruck kommen mussten - aber wann, das war nicht vorhersehbar. Es gibt in diesen Staaten einen scharfen Generationskonflikt - zwischen der privilegierten Großvätergeneration und den vielen Jungen, die ihre Chance haben wollen.

Warum wurde der Siedepunkt gerade jetzt erreicht?

Das hat meiner Ansicht nach zwei Gründe oder Anlässe: Die Explosion der Nahrungsmittelpreise, dazu die Selbstverbrennung von Mohammed Buazizi in Tunesien, die medial eine ungeheure Wirkung entfaltete. Beides hat einen Stimmungsumschwung bewirkt - von passivem Erleiden zu dem Gefühl: So geht es nicht mehr weiter.

Die Revolten in Tunesien und Ägypten haben kein klares politisches Konzept, es sind eher Aufstände von Individuen, von Bürgern. Was ist ihr Projekt?

Der Staat soll nicht mehr, wie bisher, die gesellschaftliche Ordnung definieren, sondern umgekehrt: Die Zivilgesellschaft versucht die staatliche Ordnung zu definieren. Der Staat soll Rechtssicherheit und eine Friedensordnung garantieren, aber nicht mehr die Privilegien einzelner Gruppen schützen. Es gibt noch keine kollektive Vorstellung, wie die neue soziale Ordnung aussehen muss. Dies sind eben keine ideologischen Revolten. Was sie antreibt, ist der Wunsch, frei über das eigene Leben zu verfügen - und: Chancengleichheit. Das ist das entscheidende Motiv.

Das Offene ist der Charme dieser Bewegungen. Besteht aber nicht die Gefahr, dass sich die alten Cliquen und Strukturen dagegen wieder durchsetzen?

Die Gefahr besteht, gerade in Ägypten. Aber das hat zwei Seiten. Es ist ja eine bewusste Entscheidung, keine neuen privilegierten Machtinstitutionen zu bilden, sondern die offenen, etwas anarchischen Formen zu behalten. Weil die Bewegung eben nicht Avantgarde sein oder feste Institutionen will. Davon hat man ja gerade die Nase voll. Man kann das mit den Jugendbewegungen vergleichen, die sich gegen die Adenauer Republik richteten. Auch da ging es, wie jetzt in der arabischen Welt, um individuelle Freiheit. Man wollte sich von den Älteren einfach nicht mehr vorschreiben lassen, wie man leben soll.

Also ein arabisches 1968?

Ja, aber es gibt Unterschiede. 1968 waren es Kulturrevolten in Demokratien. Was jetzt in der arabischen Welt passiert, ist anders, weiter gespannt. Man kann es eher mit dem politischen Umbrüchen vergleichen, die 1974 und 1975 in Griechenland, Spanien und Portugal passierten - also der Transformation von faschistisch-autoritären Systemen in liberale Demokratien.

In Spanien konnte man an die Zeit vor Franco, an eine verschüttete, erstickte demokratische Tradition anknüpfen. Und in Ägypten, geht es da nicht um eine Neuerfindung?

Es gibt bei Intellektuellen in Ägypten einen Rückbezug auf die 1930er und 1940er Jahre, wo es eine relativ plurale Ordnung gab. Das ist nicht so verschieden, von dem, was in Spanien in den 70ern nach Franco geschah. Ein Unterschied ist, dass sich die Intellektuellen in den arabischen Ländern mit dem Vorurteil auseinandersetzen müssen, dass islamische Gesellschaften unfähig zur Demokratie seien.

Das ist eine Projektion des Westens?

Ja, sicher. Wenn jemand in Kairo Freiheit und Gleichheit fordert, ist das nicht weniger legitim als wenn jemand das in Paris tut - nur weil es in der ägyptischen Geschichte kein 1789 gab. Menschenrechte und Demokratie sind kein Privileg des Westens - und Araber, die sich darauf berufen, werden hierdurch eben nicht verwestlicht.

Wie groß ist die Gefahr eines Rollbacks in Ägypten?

50 zu 50. Das Militär hat sich, als es sich gegen Mubarak stellte, gegen das Regime positioniert, das es hervorgebracht hatte. Diese Ambivalenz gibt es auch heute noch. Die Gefahr, dass das Militär auf Privilegien beharrt, ist real.

Und was, wenn die Revolten doch scheitern?

Dann bleiben die Widersprüche. Dann werden die Geltungsansprüche der Jungen anders zum Ausdruck kommen.

Es gibt Prognosen, dass in zehn Jahren in der Region nicht 15 Millionen Menschen unter 30 Jahren arbeitslos sein werden, sondern 100 Millionen.

Das ist wegen der Bevölkerungsentwicklung ein realistisches Szenario. Schon heute machen die 15- bis 35-Jährigen fast 40 Prozent der Gesellschaft aus. Tendenz steigend. Das verdeutlicht, wie entscheidend diese Phase jetzt ist. Gelingt es jetzt, den Millionen, die auf den Arbeitsmarkt drängen, durch Revolte und Reformen eine Perspektive zu geben, ihnen die Selbsttätigkeit zu ermöglichen? Wenn nicht, wird der soziale Druck enorm wachsen. Dann wird es Rebellionen und Verteilungskämpfe geben, von denen wir uns heute noch keine Vorstellung machen.

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9 Kommentare

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  • A
    Amin

    Beschneidung (sowohl von Jungen als auch von Mädchen) hat nichts mit dem Islam oder Koran zu tun. Es ist eine Sitte, die es seit tausenden von Jahren gibt. In den islamischen Ländern des Magreb (Marokko, Algerien und Tunesien) ist die Beschneidung der Mädchen praktisch unbekannt (0,0%). Da werden nur die Jungs beschnitten.

     

    Hier noch ein Artikel:

    http://www.islaminstitut.de/uploads/media/Beschneidung.pdf

  • B
    Behauptungstattfakten

    @Christine,

     

    danke für die Recherche, dass sind i.d.T. Zahlen, die nicht widerlegbar sind, allerdings zeigen sie auch, dass es sich hierbei nicht um ein Problem des Islams handelt, sondern offenbar älter (2000 Jahre, da gab es den Islam noch lange nicht) ist und ein spezifisch "altägyptisches" Problem sowohl der Christen und Muslime gleichermaßen ist.

     

    In Afrika südlich der Sahara ist diese zu verurteilende Praxis übrigens auch weit verbreitet auch in christlich und naturreligiös geprägten Gegenden, mithin also auch nicht spezfisch islamisch.

     

    Das sollte man bei der Debatte auch mal herausstellen, wenn man wieder mal Islambashing betreibt, wie es ja seit langem Mode ist.

  • DP
    Daniel Preissler

    Danke für den Link, Christine!

    Endlich mal ein paar Fakten. Es war mir übrigens nicht bekannt, dass auch die ägyptischen Christen ihre Töchter beschneiden lassen, wie es die Zahlen ja belegen.

    Grüße, dp

  • C
    Christine

    @ Musa + Behauptungstattfakten:

     

    Ich habe Franzikas, NICHT Carolines "Behauptung" betreffend der Genitalverstümmelung von Frauen in Ägypten gerade mal kurz gegoogelt. Hier also die von Euch geforderte Quelle: http://www.gtz.de/de/dokumente/de-fgm-laender-aegypten.pdf

    Herausgeber

    Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH

    Überregionales Projekt

    Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung

    Januar 2009

    S.1: "Verbreitung

    Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) wird in

    Ägypten seit etwa 2.000 Jahren praktiziert. Noch

    heute sind 96% der jemals verheirateten Frauen

    zwischen 15 und 49 Jahren betroffen. Genitalverstümmelung

    ist im ganzen Land verbreitet, nur in

    wenigen Landesteilen liegt die Prävalenzrate unter

    90%.

    Mehr als die Hälfte der Verstümmelungen wird an

    Mädchen im Alter zwischen sieben und zehn Jahren

    vorgenommen. Geringfügige Unterschiede

    bestehen hinsichtlich Wohnort, Bildungsgrad und

    sozioökonomischer Situation der Frauen: Die Prävalenzrate

    ist in den Städten (92%) niedriger als

    auf dem Land (98%), gut ausgebildete Frauen

    (92%) sind weniger betroffen, als Frauen mit keiner

    oder geringer Bildung (über 98%). Mit über

    98% werden Frauen in den ärmsten Haushalten eher beschnitten als Frauen aus den reichsten

    Haushalten, die lediglich zu 88% betroffen sind."

    Quellen:

    ORC Macro : Egypt – Demographic and Health

    Survey 2005

    UN Chronicle Online Edition: Egypt Bans FGM,

    02.06.2008

    UNICEF: Egypt FGM/C Country Profile, 2005

    WHO: Country Profiles: Egypt, 28.05.2008

  • B
    Behauptungstattfakten

    Da muss ich dem "Musa" (arabischer Moses?) Recht geben: wo bitte haben Sie Ihre Zahlen denn genau her, dass "90% klitoral" verstümmelt seien.

    Dass es sowas da gibt, ist sicher richtig, aber bitte - liebe FeministInnen, selbsternannte IslamexpertInnen, frustierte Emanzen und demokratisch-aufklärerisch verbrämte kulturalistische RassistInnen von Links bis Rechts:

     

    Bitte stellt hier nicht immer irgendwelche Allgemeinplätze über DEN Islam und DIE islamische Frau hier in den Raum, die oft aus einer Mischung aus Hörensagen, Unkenntnis, Vorurteilen und einer Brise Faktenkenntnis bestehen, weil man zufällig im Bekanntenkreis von einem Fall weiß o.ä.

     

    Danke!

  • M
    Musa

    Caroline,

     

    "In Ägypten sind über 90% der Frauen klitoral verstümmelt"

     

    Kannst Du bitte dafür eine ernstzunehmende statistische Quelle angeben? Danke!

     

    Ansonsten, was "unkritisch" ist, ist höchstens Dein eigener Kommentar.

     

    i.d.S.

    Musa

  • C
    Caroline

    Hier "entscheiden" sich junge Frauen für ein Kopftuch, im IRan kämpfen sie dafür, dass sie möglichst wenig verhüllen müssen.

    Hier ist es vollkommen ungefährlich,Kopftuch zu tragen, denn man lebt ja in der westlichen Sicherheit. Im Iran ist es hingegen gefährlich, kein Kopftuch zu tragen.

  • F
    Franziska

    Dieser Beitrag ist sehr unkritisch gehalten.

    In Ägypten sind über 90% der Frauen klitoral verstümmelt, von persönlichen Freiheiten kann nicht die Rede sein.

    Wenn es so schön in den islamischen Staaten ist frage ich mich, warum so viele Muslime in Europa, einem eindeutig NICHT muslimischen Land leben?

     

    Warum kommen Bosniaken nach Deutschland und leben nicht, in der kulturell viel näher stehenden, Türkei?

  • H
    Hegemon

    Tja....was macht denn die verlogene, imperialistische, öl-und geldgierige "Wertgemeinschaft" da, wenn einer ihrer Hauptvorwände für neokoloniale Kriege, nämlich die angebliche Frauenbefreiung, wegfällt, wenn diese Frauen da sich partout nicht "befreien" lassen wollen von westlichen Demokratie- und Menschenrechts-Heuchlern??? :-(((