DIE WAHRHEIT: Retter der Kokosnuss
Nennt mich Indiana Ringel! Ich habe den größten Schatz aller Zeiten gefunden. Den Schatz von Thiruvananthapuram. In Indien. In Kerala ...
... Im Tempel Sree-Padmanabhaswamy. Sieben Milliarden, 15 Milliarden, 22 Milliarden soll er nach neuesten Nachrichten wert sein und aus Gold und Edelsteinen, Geschmeide und Silber bestehen. Und ich habe ihn entdeckt, das heißt, nicht direkt entdeckt, aber ich war ganz nah dran. Sehr, sehr nah …
Vor einigen Monaten reiste ich aus Delhi und Bombay kommend nach Thiruvananthapuram, wie die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Kerala amtlich heißt - und weil das selbst für Inder ein Zungenbrecher ist, nennt man die Stadt des Gottes Anantha lieber kurz nach ihrem früheren Namen Trivandrum. Trivandrum ist so etwas wie das Stuttgart Indiens, eine moderne Universitätsstadt im historischen Dampfkessel, allerdings ohne tiefergelegte "21" und Wutbürger. Rund eine Millionen Einwohner hat Trivandrum, was für indische Verhältnisse eher wenige sind, aber ganz im Gegensatz zu den Stuttgartern und den hohen Temperaturen sind sie eher coole und entspannte Zeitgenossen. Sie wissen, dass sie in "Gods own Country" leben, wie das Paradies Kerala auch genannt wird - nicht nur, weil es der wahrscheinlich schönste Staat des Subkontinents ist, sondern auch weil so viele unterschiedliche Sekten und Religionen einigermaßen friedlich nebeneinander existieren. Friedlich heißt allerdings nicht leise, der Krach gehört zum Beten und Beschwören dazu, meint jedenfalls der sonst so zurückhaltende, aber bei Glaubensgeschäften hemmungslos lärmende Inder.
Zielsicher führte unser Mann in Trivandrum uns zum Padmanabhaswamy-Tempel, ist er doch mit seinem siebenstöckigen Turm über dem Tor, der aus weithin leuchtendem weißen Muschelkalk und Elfenbein besteht und einer Inkarnation des Gottes Vishnu gewidmet ist, die Hauptsehenswürdigkeit der Stadt. Ich war der einzige unserer kleinen Expeditionsgruppe, der sich dagegen entschieden hatte, den klassischen Mundu zu tragen, jenen Wickelrock, der unten herum jede Menge Luft heranlässt. Prompt stoppten uns die barbusigen Wächter in ihren weißen Tüchern am Eingang. Lässig trugen sie kurze Bambusstöcke, mit denen sie Sektenanhängern auch schon mal einen leichten Schlag versetzten, wenn ihnen Benehmen oder Kleidung nicht gefiel. Nein, keiner dürfe den Tempel betreten, absolut niemand, beteuerten die Wächter, erst recht kein Fremder, der sich nicht an traditionelle Kleidungsvorschriften halte. Wir könnten uns gern den Konventionen anpassen und den Oberkörper frei machen, schlug unser erfahrener Führer vor. Aber die unerbittlichen Wächter winkten ab, wie auch ich dankend ablehnte, meine zarten Männerbrüste durch einen dunkel verwinkelten Tempel zu schwingen - nein, das musste nicht sein. Schließlich hatte ich mich auch ordentlich in Schale geworfen, waren wir später doch noch zum Kokosnussschießen des Maharadschas von Travancore eingeladen.
Und so verpasste ich kürzlich leider ganz knapp die Entdeckung des über Jahrhunderte versteckt gehaltenen Tempelschatzes von Trivandrum, dessen Wert laut den Nachrichtenagenturen offenbar stündlich steigt, so dass der Regierungschef von Kerala inzwischen die Polizei einen dreireihigen Sicherheitsring rund um den Tempel hat bilden lassen. Bislang sind fünf Schatzkammern aufgespürt worden, demnächst soll eine sechste geöffnet werden. Unter anderem hat man eine Tonne Goldmünzen aus der Zeit Napoleons, Säcke voller Diamanten, wertvolle Halsketten und unzählige Goldstatuen gefunden - nicht nur für indische Verhältnisse unvorstellbare Kostbarkeiten, die sofort allerlei Begehrlichkeiten erweckten.
Was könnte man nicht alles mit dem immensen Vermögen anstellen ... Man könnte Armut und Elend eindämmen, man könnte aber auch einen Tiefbahnhof oder - besser noch für dortige Gegebenheiten - einen unterirdischen Flughafen bauen: "Trivandrum 21". Denn der Flughafen von Trivandrum ist der einzige internationale Airport der Welt, dessen Start- und Landebahnen regelmäßig gesperrt werden müssen, wenn seine Königliche Hoheit Sri Uthradom Thirunal Marthanda Varma, der Maharadscha von Travancore, zweimal im Jahr eine Prozession vom Tempel aus quer über das Flughafengelände zum Meeresstrand führt. Dafür verlässt der hochgebildete Mann eines seiner noblen Häuser in Bombay, Delhi oder London und kehrt zu seinen folkloristischen Wurzeln zurück, zu denen auch das Kokosnussschießen gehört, das dem deutschen Schützenvereinstreiben nicht wenig verwandt zu sein scheint.
Nachdem unser Mann in Trivandrum uns auf geheimnisvollem Wege eine Einladung besorgt hatte, stand ich abends neben der Maharani und ihrer Familie auf einem Balkon des fürstlichen Stadtpalais und beobachtete von dort aus das Treiben unten auf der Straße. Der undefinierbar alte Maharadscha wurde nun von seinen Getreuen und einem Tempelelefanten an einen auf der Straße errichteten Schrein herangeleitet, in dessen Mitte zwischen den Zweigen eines heiligen Baumes eine ölig glänzende Kokosnuss aufgestellt war. Im flackernden Licht der Fackeln reichten die Priester dem Maharadscha Pfeil und Bogen, und der Greis mit seiner grünen Kopfbedeckung trat millimeternah an die grüne Nuss heran und feuerte sacht sein Geschoss ab, das zitternd stecken blieb. Im Schuss und Treffer wurden Schütze und Ziel eins und übertrugen pfeilgerade ihre Kraft auf alle und jeden, die sie umgaben. Sogleich brach Jubel los, und das Volk eilte gesittet herbei, um einen Zweig aus dem geschmückten Schrein zu brechen, denn jedes Ästchen sollte ein halbes Jahr lang Glück bringen. Und so hatten der Maharadscha und seine Kokosnuss die Stadt und den Erdkreis wieder einmal vor allem Unglück bewahrt und gerettet.
Ich bedankte mich bei der Maharani und ihrer Familie für ihre Gastfreundschaft, stieg vom Balkon herab und brach ebenfalls ein Zweiglein. Es sollte mir Glück bescheren und mein persönlicher Schatz sein - selbst wenn ich den seit 1730 angehäuften Tempelschatz wie so viele nicht entdeckt hatte: Für die großen Eroberer lag Trivandrum zu abseits; die räuberischen Engländer zogen sich frühzeitig zurück; und das Fürstenhaus des Maharadschas hatte die administrative Verantwortung längst abgegeben, so dass die Priesterkaste sich selbst überlassen war und den vergessenen Schatz vor den Ali Babas dieser Welt wie beispielsweise der sozialistischen Landesregierung Keralas sorgsam beschützte. Notfalls wolle man Massenselbstmord begehen, falls jemand den Sesam öffnen wolle, drohte die Sekte inzwischen. Ich zumindest werde deshalb dem guten, alten Indiana Jones keine Konkurrenz mehr machen. Dafür bin ich jetzt lieber eine Art Retter der Kokosnuss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!