Kommentar Einbürgerungspolitik: Wie man eine Willkommenskultur schafft
Die Politik bemüht sich, die Scherben aufzukehren, die die Sarrazin-Debatte hinterlassen hat. Aber das kann nicht über die Realität hinwegtäuschen.
V on einer "neuen Willkommenskultur" ist in letzter Zeit viel die Rede. Die Kanzlerin und viele Politiker greifen zu dieser Formel, um zu betonen, dass Deutschland für ausländische Fachkräfte attraktiv bleiben müsse. Daraus spricht auch das Bemühen, die Scherben aufzukehren, die die Sarrazin-Debatte hinterlassen hat.
Nachdem Angela Merkel vor zwei Jahren schon einmal zu einer Einbürgerungsfeier ins Kanzleramt lud, zog nun Bundespräsident Wulff mit einer ähnlichen Zeremonie nach. Man soll die Bedeutung solcher symbolischen Gesten, die bundesweit immer mehr in Mode kommen, nicht gering schätzen und belächeln: Sie sind wichtig, weil sie eine emotionale Verbindung stiften und eine Form der Anerkennung darstellen. Früher war es oft üblich, dass man den deutschen Pass auf irgendeinem Amt formlos in die Hand gedrückt bekam.
Die schönen Gesten können aber nicht verbergen, dass die Zahl der Einbürgerungen zu wünschen übrig lässt - was nicht zuletzt an Merkel selbst liegt, die 2007 mit dem Einbürgerungstest neue Hürden dafür aufstellen ließ. Heute leben noch immer 6,75 Millionen Menschen in Deutschland, die teilweise sogar hier geboren sind, aber keinen deutschen Pass besitzen. Das ist ein Problem für unsere Demokratie, weil damit eine relevante Bevölkerungsgruppe vom Wahlrecht ausgeschlossen ist, was in manchen Großstädten zu merkwürdigen Schieflagen führt. Es bringt auch Nachwuchsprobleme mit sich, etwa bei der Bundeswehr.
ist Parlamentskorrespondent der taz.
Nun gibt es darüber zum Glück wieder eine Debatte. Denn es wäre richtig, auch Türken und Russen - und nicht nur, wie bisher der Fall, nur Bürgern aus EU-Staaten - die doppelte Staatsbürgerschaft zu erlauben. Auch ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger wäre gut. Und die Optionspflicht, nach der sich Jugendliche, die hier geboren wurden, aber ausländische Eltern haben, mit 23 Jahren für einen Pass entscheiden müssen, gehört abgeschafft. Sie ist bürokratischer Unsinn. Es braucht noch mehr als nur nette Gesten, um eine echte "Willkommenskultur" zu schaffen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen