die wahrheit: Die armen Hunde von Vietnam
Weihnachten wirft seine langen Schatten voraus. Normalerweise bricht der Festtagsstreit erst unter dem Tannenbaum aus. Bei den OConnels war es schon früher so weit.
W eihnachten wirft seine langen Schatten voraus. Normalerweise bricht der Festtagsstreit erst unter dem Tannenbaum aus. Bei den OConnels war es schon am Wochenende so weit. Ihr Freund Tom werde dieses Jahr zum Truthahnessen kommen, weil seine Eltern über die Feiertage verreisen, erklärte die 17-jährige Tochter Diane. "Kein Problem", sagte Martha, ihre Mutter. "Wir werden den Tisch ausziehen, damit sechs Leute daran Platz haben."
Diane fragte misstrauisch: "Wieso sechs Leute?" Martha rechnete ihr vor: "Dein Vater, dein Bruder und ich, Tom und du sowie Sally." Diane bekam einen bedenklich roten Kopf und plärrte: "Wenn diese Kuh zum Essen kommt, gehe ich mit Tom Pizza essen, und ihr könnt euch euren Truthahn vors Knie nageln!" Aber Sally, die 60-jährige Nachbarin, sei doch alleinstehend, und man könne sie zum Fest der Liebe unmöglich einsam in ihrem Haus sitzen lassen, entgegnete die Mutter. "Fest der Liebe, hahaha", schnaubte Diane sarkastisch, "das hat sie uns doch bisher jedes Mal versaut. Du selbst hast voriges Jahr gesagt, sie käme nie mehr ins Haus."
Vor drei Jahren war Sally, die Tiere liebt und Menschen im Grunde verabscheut, zum ersten Mal eingeladen worden. Weil sie Vegetarierin ist, wartete sie, bis das Hauptgericht verspeist war. "Ihr habt den Kadaver hoffentlich schon weggeräumt", begrüßte sie die Gastgeber. "Wie könnt ihr nur Tiere essen?" Jeder habe natürliche Feinde, versuchte Martha zu argumentieren: "Nimm zum Beispiel die Ratten. Sie haben die Pest übertragen und 25 Millionen Menschen dahingerafft, ein Drittel der europäischen Bevölkerung." Sally ließ das nicht gelten: "Die Ratten hatten schon immer eine schlechte Presse. Viele mittelalterliche Forscher glaubten damals, dass die Juden die Brunnen vergiftet haben." Dafür bekam sie die erste rote Karte.
Ein Jahr später war der gnädige Mantel des Vergessens über Sallys Ausrutscher gebreitet, und sie wurde erneut eingeladen. Diesmal drehte sich die Diskussion um die gesunkenen Hauspreise. In Cabra könne man jetzt preiswerte Häuser kaufen, meinte Martha. "Cabra? Das ist doch ein Ghetto", konstatierte Sally. Was wisse sie denn schon von Ghettos, giftete Martha zurück. "Ich weiß alles über Ghettos, ich bin in einem aufgewachsen", log Sally. "Mein Vater ist abgehauen, als ich neun war. Mein Bruder hat meine Schwester umgebracht, und meine Mutter ist verhungert." Damit war die Stimmung dahin und man beschloss, von weiteren Einladungen Abstand zu nehmen.
Doch je näher Weihnachten rückte, desto stärker wurde Marthas Mitleid, sodass Sally erneut am Tisch saß. Man redete über den Afghanistankrieg, und schließlich landete man beim Vietnamkrieg. "Den Vietnamkrieg werde ich den Amis nie verzeihen", sagte Sally, und für einen Moment war man sich einig. Sollte das Weihnachtsfest diesmal gar harmonisch verlaufen? Doch dann fügte Sally erklärend hinzu: "Ich werde den Soldaten nie vergeben, dass sie ihre Hunde zurückgelassen haben, als sie abzogen. Das war das Schlimmste, das sie in Vietnam angerichtet haben."
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