Die Wahrheit: Schwerer Seegang
Galasaufen: 20 Jahre Wahrheit mit 20 Promille im Blut.
"Wo bin ich denn hier gelandet?", denke ich und sehe mich staunend um. Der Heimathafen in Neukölln soll das sein, doch irgendwer scheint hier gehörig umdekoriert zu haben. Es sieht nun aus wie eine Mischung aus Piratenschiff und Lustgrotte. Wie gut, dass ich nicht ganz nüchtern zu diesem Reportagetermin erschienen bin. "Ist das hier das Wahrheit-Jubiläum?", frage ich einen runzligen alten Mann, der am Eingang die Karten abreißt. "Das Klo ist unten", entgegnet der Gnom, der mich stark an Heiner Geißler erinnert. "Schönen Dank auch", gebe ich zurück und trete weiter in den Saal hinein. Eine raubeinige Sirene mit rosa Schuppenkleid und Augenklappe überreicht mir ein großes Glas mit schaumigem Inhalt. "Begrüßungscocktail: Oktopussyfoot!" Zögernd nehme ich ihr das Gebräu ab - es schmeckt bitter und etwas seifig, nach Rum und Marzipan mit einem Hauch Seetang. Na ja, solange es umsonst ist. Ich nehme noch einen. Dann suche ich mir ein gemütliches Plätzchen zwischen den zahlreichen Planken, Fässern und Totmannskisten.
Auf der Bühne gehen derweil höchst merkwürdige Dinge vor: Zwei Moderatoren haben sich als Michael Ringel und Jenni Zylka verkleidet und bringen mit Charme und Witz das Publikum zum Kochen. Eines muss man ihnen wirklich lassen, ihre Parodien sind nicht übel. Nach und nach kommen allerhand Freibeuter und Meerjungfrauen auf die Bühne, um abenteuerliche Einträge aus den Logbüchern der Wahrheit zu verlesen.
Gerade habe ich meinen zweiten Oktopussyfoot leer getrunken, da spüre ich, wie das Schiff anfängt langsam zu schwanken. Wir müssen abgelegt haben, vermute ich. Mir wird ganz schwummerig und etwas flau im Magen. Ich will schnell gegensteuern und sehe mich nach etwas Geeignetem um. Schnell werde ich fündig und nehme einem großen Schluck aus einer herrenlos herumstehenden Flasche Asbach Uralt. "Puh, Teufelszeug", denke ich und komme wieder zu Besinnung. Als ich mich dann etwas genauer umschaue, bemerke ich einige seltsame Gestalten unter den Gästen. "Gibts doch nicht", stammele ich ungläubig, "Spinn ich jetzt?" Auf ein paar Bierfässern etwas abseits sehe ich Jopi Heesters und den leibhaftigen Sensenmann sitzen. Sie scheinen aufgeregt und wortreich über irgendetwas zu diskutieren. Doch auf so etwas habe ich gerade gar keine Lust und wende mich wieder dem Bühnenprogramm zu.
Dort versucht gerade Corinna Stegemann eine irre Lyrikerboyband im Zaum zu halten, die sich daranmacht, gleichzeitig zu tanzen und zu dichten. Bandleader Thomas Gsella gibt den Vortänzer und heizt das Publikum weiter an. Nie waren sich Hochkomik und Breakdance so nah wie in diesem Augenblick. Dann wird es feierlich. Ein buckliger Diener schiebt einen Wagen mit einem luftgetrockneten Gnu auf die Bühne. Es ist ein Ehrenpreis für Zeichner ©TOM, als Dank für 20 Jahre Treue. Heiße Tränen der Ergriffenheit schießen mir ins Gesicht, jetzt brauche ich erst mal was zu trinken. Glücklicherweise schmeißt gerade jemand eine Runde für alle: Blutwurz, brennend serviert. Warum auch nicht? Doch wer ist der edle Spender? Ich traue meinen Augen kaum: Edmund Stoiber trägt große silberne Tabletts übers Deck. Dann steuert er zielsicher auf eine Frau zu, die verdächtig nach Erika Steinbach aussieht. "Nee, das kann nun wirklich nicht sein", sage ich zu mir selbst. Doch es hilft nichts, ein paar Ratten muss es wohl auf jedem Schiff geben. Und dann wird es noch schlimmer, der olle Ede fällt dem Steinbach-Double direkt in die Arme und fängt an, sie wie wild abzuknutschen. Mir wird schlagartig schlecht.
Zu allem Übel biegt Margot Käßmann um die Ecke - heftig angesäuselt und wild fluchend. "Lass das Wiesel los, lass das Wiesel los!", brüllt sie Stoiber an und fängt an, auf Erika Steinbach einzuschlagen. Es wird Zeit für einen weiteren Cocktail, ich gehe die Raubeinige suchen.
Auf dem Podium spielt nun eine Band - Die Blutjungs. In mein Ohr dringen angenehm morbide Textzeilen über Ellbogen und Gedärm und über Sex von hinten auf der Schweinehälfte. Den Gästen gefällts: Zahlreiche abgenagte Hühnerbeine, Augenklappen und Papageien werden auf die Bühne geworfen. Die Masse tobt, das Schiff schaukelt bedrohlich.
Mittlerweile ist die Schlägerei zwischen Ede, Erika und Margot abgeebbt. Vor allem dank Bushido, der wie aus dem Nichts erschienen war und - einfühlsam, wie man ihn kennt - mit sanften Worten versucht hatte, die Streithähne zu befrieden. "Jetzt fassen wir uns alle an den Händen und denken an was Schönes!", sagt Bushido und greift blindlings nach rechts. Er schnappt sich die Hand des Sensenmanns und fällt auf der Stelle tot um. "Dumm gelaufen", rutscht mir heraus. Man einigt sich darauf, die Leiche über Bord zu werfen und Steinbach kielholen zu lassen. Tod macht durstig, denke ich und bahne mir den Weg zur Bar.
Ein kleiner Drink ist auch bitter nötig, denn auf der Bühne schicken sie sich an, einen "Marmor-Ohren-Tanz" aufzuführen - oder zumindest so etwas Ähnliches. Sie nennen es Haka und haben dafür extra über Skype die neuseeländische Choreografieexpertin Anke Richter zugeschaltet, die mit Federboa und Schafimitat dekoriert pantomimische Anweisungen gibt. "Hacker, so a Schmarrn!", ruft ein sichtlich erboster Edmund Stoiber und stürmt die Bühne. "Ich zeig euch a mal, wie Schuhplattler geht!"
Das wird schlimm, ahne ich und stürze reflexartig eine Flasche "Großmutters Schokogeheimnis" hinunter. Doch der erhoffte Effekt bleibt aus, müde torkele ich zu einer Kiste und will nur mal kurz die Augen zumachen.
Als ich wieder aufwache, liegt das ganze Schiff in dichtem Dunst, und aus der Ferne dringen nebelhornartige Klänge an mein müdes Ohr. Auf der Bühne sitzen Pu der Bär und ein irischer Klabauterkuckuck und brummen um die Wette. Es klingt schön. Doch dann lichten sich die Schwaden, und ich erkenne, dass es Harry Rowohlt und Ralf Sotscheck sind, die der Mannschaft eifrig Seemannsgarn aufbinden. Am Horizont sehe ich ein gutes Dutzend Meerjungfrauen Canasta spielen. Das gibt mir nun wirklich den Rest. Meine sterbliche Hülle besorgt sich ein paar Wegbier und segelt schon mal gen Heimat, während mein Astralleib noch eine Weile bleibt und auf der Tanzfläche das Holzbein schwingt.
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