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Bauernproteste in ChinaAlltäglicher Widerstand

Immer wieder entzünden sich in China Konflikte zwischen lokalen Kadern und der Bevölkerung. Am wütendsten sind die Menschen auf dem Land.

Sitzblockade vor dem lokalen Regierungsgebäude in Lufeng, Provinz Guangdong, im November. Bild: reuters

BERLIN taz | Der außer Kontrolle geratene Landkonflikt in Wukan ist nur ein besonders drastisches Beispiel für jährlich zehntausende Proteste in der Volksrepublik, die auf Parteichinesisch "Massenzwischenfälle" genannt werden.

Widerstand äußert sich ebenso bei Landenteignungen wie in Arbeiterstreiks, es gibt Verkehrsblockaden, Besetzungen, Studentendemos, Umwelt- und Verbraucherproteste bis hin zu Autokonvois geprellter Käufer von Eigentumswohnungen.

Gelegentlich kommt es dabei auch zu Todesfällen, vor allem dann, wenn die lokalen Behörden mittels informeller Schlägertrupps Protestierende angreifen. Diese nehmen ihrerseits manchmal Kader als Geiseln. Doch inzwischen reagieren die meisten Behörden flexibler und setzen außer blanker Repression auch Verhandlungen und Versprechungen ein, um den Protesten die Spitze zu nehmen - wobei sie auch nicht vor lancierten Falschmeldungen und Medienzensur zurückscheuen. Im nächsten Schritt gehen sie dann gegen sogenannte Rädelsführer vor.

Drohung der Behörden

Nach tagelangen Protesten in dem chinesischen Fischerdorf Wukan haben sich die lokalen Behörden entschlossen gezeigt, die Demonstrationen niederzuschlagen. "Die Regierung ist entschlossen, all jene zu verfolgen, die ein Verbrechen begangen haben, indem sie die Dorfbewohner ermutigt haben, Unruhen anzuzetteln, öffentliche Güter und Anlagen zu zerstören und die Verwaltung zu behindern", sagte der Bürgermeister der Stadt Shanwei, Wu Zili, am Freitag nach Angaben der Nachrichtenagentur Xinhua. Wenn sich die Anführer den Behörden stellten, werde die Regierung aber "Milde" zeigen. Das Dorf ist seit Tagen von der Polizei abgesperrt. (afp)

Die genaue Zahl der "Massenzwischenfälle" ist unbekannt wie auch die Kriterien ihrer offiziellen Erfassung. Von 8.700 im Jahr 1993 stiegen die Proteste auf offiziell 87.000 im Jahr 2005 an - also eine Verzehnfachung in zwölf Jahren.

Guangdong ist die reichste Provinz

Doch seitdem wurden keine offiziellen Zahlen mehr bekannt gegeben. Für 2008 wird inoffiziell von 127.000 Vorfällen gesprochen. Das würde einen weiteren starken Anstieg bedeuten, wofür auch die verstärkte Geheimhaltung spricht.

Laut Professor Yu Jianrong vom staatlichen Thinktank "Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften" gehen 65 Prozent aller Proteste auf Landkonflikte zurück. Da ist es kein Wunder, dass diese Konflikte ausgerechnet in der südlichen Boomprovinz Guangdong so heftig sind. Guangdong ist die reichste Provinz mit der höchsten Zahl an Fabriken. Entsprechend scharf sind die Landnutzungskonflikte.

Dabei geht es nicht um Enteignung im juristischen Sinn - in China gibt es keinen privaten Grundbesitz -, sondern es geht um die vorzeitige und zu gering entschädigte Kündigung langfristiger Pachtrechte und deren lukrativen Verkauf an private Investoren. Etwa dann, wenn Äcker in Golfplätze, Luxussiedlungen oder Industriezonen umgewandelt und die Bauern von ihrem angestammten Land vertrieben werden.

Oft gehen lokale Kader lukrative Geschäfte ein und profitieren dabei von Bestechungsgeldern oder eigenen Beteiligungen an den Projekten. Der Zorn der Enteigneten und Vertriebenen richtet sich deshalb vor allem gegen die als korrupt und ungerecht empfundenen lokalen Beamten und nicht gegen die Regierung in Peking oder das System als solches. Vielmehr wird von der Bevölkerung eine Intervention der Pekinger Führung oft geradezu herbeigesehnt.

Kommunikation via Weibo

Die Proteste haben in den letzten Jahren aus mehreren Gründen weiter zugenommen. So ist die Landbevölkerung inzwischen besser informiert und höher gebildet, was die Kenntnisse ihrer Rechte einschließt. Und die Kommunikation mittels Internet und vor allem dem in China beliebten Twitter-ähnlichen Kurznachrichtendienst Weibo ermöglicht einen schnellen Austausch und eine leichtere Organisation von Protesten.

Andererseits ist in den letzten Jahren die soziale Kluft stärker gewachsen. Das heißt, dass die Reichen viel schneller und schamloser reich wurden als ärmere Schichten. Die Zentralregierung hat mit der Abschaffung der Agrarsteuer und schärferen Gesetzen für Landumwandlungen und der Aufrüstung der Polizei reagiert. Für die Bauern bleiben die juristischen Möglichkeiten in der Praxis aber weiter sehr beschränkt. Oft werden erst nach Protesten die Lokalkader bestraft.

Die Regierung betont immer wieder die Wichtigkeit von sozialer Stabilität, was sich auch in der offiziellen Propaganda der "harmonischen Gesellschaft" zeigt. Bisher gelang es ihr noch immer zu verhindern, dass sich lokale Proteste und der Unmut über verschiedene Probleme vernetzen und zu einer für die KP herrschaftsgefährdenden Kraft werden.

Gleichzeitig gibt es weiterhin Themen, die ein totales Tabu darstellen, als da sind: Aktionen auf dem Tiananmen-Platz in Peking, die Falun-Gong-Sekte, Unabhängigkeitsbestrebungen für Tibet, Taiwan, Ostturkestan (Xinjiang) oder die Innere Mongolei, Aufrufe für ein Mehrparteiensystem oder freie Wahlen.

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4 Kommentare

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  • M
    Mensch

    socialism is dead

    long live socialism!

  • S
    Son

    Ja tatsächlich scheinen die lokalen Repräsentanten eine der Zentralregierung gegenläufige Auffassung der Entwicklung zu verfolgen. Denn anders kann man sich den Golfplatzbauboom trotz eines Moratoriums der Zentralregierung aus dem Jahr 2004 (!) erklären. Da rechtsstaatliche Mittel anscheinend nichts nutzen bleibt nur der Protest. Allerdings wird das auch inflationär benutzt, denn wenn ich nun mal eine überteuerte Wohnung in Shanghai kaufe und der Bauherr 3 Monate später die Preise mangels Nachfrage für die noch nicht verkauften senkt kann ich auch in Deutschland nicht mit Sitzstreik vor der Regierungszentrale um Schadensersatz klagen.

  • K
    keulix

    Ich muß Dylan recht geben. Was im Zusammenhang mit Ai Weiwei passiert ist zwar interessant, aber ich glaube kaum, daß sich darin die Masse der chinesischen Bevölkerung widerspiegelt. Aus meiner Sicht wird Ai Weiwei überbewertet. Die Vorgänge an der Basis, sprich im Volk, sind viel wichtiger. Daran kann man ablesen, in welche Richtung die chinesische Gesellschaft sich zukünftig entwickelt. Die Chinesen ticken nun mal völlig anders als wir Europäer, aber ich bin mir sicher, daß sie einen vernünftigen Weg finden werden, mit ihrem derzeitigen System fertig zu werden. Ich glaube, die Chinesen werden schnell merken, daß man Geld nicht essen kann und entsprechend darauf reagieren.

  • D
    Dylan

    Über diese Fälle sollte durchaus noch mehr berichtet werden, anstatt wie die ZEIT immer nur über das besondere Individuum (wie Ai Weiwei) zu schreiben.

    Dass breite Teile der Unterschicht in China mit

    Armut, Abhängigkeit und Repression zu kämpfen haben,

    ist den "liberalen" Journalisten in Hamburg naturgemäß gleichgültig.

    Dass es vor allem auch linke chinesische Oppositionelle gibt, wird zudem gern verschwiegen.