Jürgen Trittin über Gauck: "Politik des Zuhörens"
Der Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sieht Gauck als jemanden, der auch Dinge sagt, die seinen Wählern nicht gefallen. Und wertet dessen Nominierung als Erfolg der Grünen.
taz: Herr Trittin, welche Rolle spielt für Sie die politische Verortung eines Bundespräsidenten?
Jürgen Trittin: Eine große Rolle. Wir haben uns deswegen bereits vor 20 Monaten für einen wertegeleiteten Konservativen entschieden, der in seinem politischen Leben immer für Freiheit und Verantwortung gestanden hat. Sein Freiheitsbegriff ist ein anderer als der der Neoliberalen.
Aber er ist auch ein Kandidat, der die Auseinandersetzungen um S21 als eine Protestkultur bezeichnet, die immer dann aufflammt, wenn es um den eigenen Vorgarten geht. Er hat die Occupy-Bewegung altväterlich als läppisch und lächerlich diskreditiert. Die Montagsdemos gegen Hartz IV nannte er töricht, die Begrenzung der Laufzeit von AKWs gefühlsduselig.
Wenn ich mit Letzterem anfangen darf: Diese Debatte haben wir schon im Herbst 2010 sehr ausführlich geführt, bevor er von uns allen einmütig als Kandidat unterstützt wurde. Joachim Gauck hat sich als jemand erwiesen, der seine Position klar vertritt, der aber auch bereit ist, seine Position einem demokratischen Diskurs zu stellen und sie mit Argumenten zu verteidigen. Das ist das Stück demokratischer Kultur, das wir als "Politik des Zuhörens und Gehörtwerdens" bezeichnen und das diese Gesellschaft dringend nötig hat. Wir wollen einen Präsidenten, der demokratische Diskurse anstößt. Da wird er auch das ein oder andere sagen, das auch denen nicht gefällt, die ihn gewählt haben.
Gauck also als Enfant terrible und deswegen kompatibel mit den Grünen?
Ich habe nicht von Enfant terrible gesprochen, sondern von jemandem, der mit großem Ernst Positionen vertritt, die er im Dialog zu verteidigen, aber auch zu verändern bereit ist.
57, ist seit 2009 Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen. Von 1998 bis 2005 war er Bundesumweltminister der rot-grünen Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD).
Sie haben gesagt, dass er inhaltlich in erster Linie für Freiheit steht, ein Terminus, der zunächst mit der FDP in Verbindung gebracht wird, nicht mit den Grünen.
Die FDP hat einen Begriff von Freiheit, der in der Abwesenheit von Gesellschaft und sozialer Verantwortung besteht. Gauck definiert Freiheit als Freiheit zu Verantwortung. Das trifft sich mit unseren Vorstellungen von Freiheit in der Verantwortung. Für uns Grüne gehört dazu immer auch die Verantwortung für kommende Generationen. Außerdem haben weite Teile der Bürgerbewegung, die die DDR zu Fall brachte und für die auch Joachim Gauck steht, ihre Heimat bei Bündnis 90/Die Grünen gefunden.
Sie werten das breite Grinsen von Sigmar Gabriel bei der Vorstellung des Kandidaten am Sonntagabend also nicht dahin gehend, dass er darin die Vorzeichen einer großen Koalition sieht, in der die Grünen das Nachsehen haben werden?
Ich erlaube mir den Hinweis, dass ich Sigmar Gabriel seinerzeit Joachim Gauck vorgeschlagen habe - nicht andersherum. Ich habe das aus voller Überzeugung getan. Joachim Gauck ist bestimmt kein Kandidat der großen Koalition, da wären mir andere eingefallen.
Gauck war 2010 also nicht, wie von höchster Stelle kolportiert, die Idee des Springer Verlags?
Ich gelte ja nicht als besonders Springer-kompatibel …
… um so interessanter, dass Sie sich mit Friede Springer um den Urheberschutz streiten müssen.
Muss ich gar nicht. Man kann sogar in den Protokollen der Bundesversammlung nachlesen, dass Joachim Gauck unser Vorschlag war. Friede Springer war damals Wahlfrau für die Union. Fragen Sie sie doch mal, ob sie Wulff oder Gauck gewählt hat.
Ist es kein Armutszeugnis, dass Ihnen auch in diesem Jahr keine Frau eingefallen ist?
Wer sagt Ihnen denn, dass uns keine Frau eingefallen ist? Katrin Göring-Eckardt zum Beispiel wäre eine exzellente Kandidatin gewesen, die wir Grüne vorgeschlagen hätten, wenn es eine realistische Chance auf eine Mehrheit für sie gegeben hätte.
Sie übernehmen also, wie von Angela Merkel intendiert, die volle Verantwortung für einen Bundespräsidenten Gauck?
Wir haben Frau Merkel nach der Abschaffung der Wehrpflicht, nach dem Atomausstieg auch in der Frage des Bundespräsidenten unsere Position aufgezwungen. Nun ist es also im dritten Fall offensichtlich, dass Schwarz-Gelb nicht mehr die Macht hat, seine Politik gegen uns durchzusetzen. Das halte ich für einen großen politischen Erfolg von Bündnis 90/Die Grünen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Krise der Ampel
Lindner spielt das Angsthasenspiel