Montagsinterview mit Sebastian Nitsch: "Der alltägliche Wahnsinn"
Im Friedrichshainer Zebrano-Theater steigt im April die Premiere von Sebastian Nitschs erstem Soloprogramm "Unsterblichkeitsbatzen". Beworben wird es als "Komik zwischen Feingeist und grober Leberwurst".
taz: Herr Nitsch, Sie nennen sich „Alltagsphilosoph“ und „Hellwachträumer“, gehen mit einem „rasterelektronenmikroskopischem Blick fürs Detail“ durch die Welt und machen daraus Nummern für die Bühne. Können Sie diese hübschen Formulierungen etwas genauer erklären?
Sebastian Nitsch: Gern. Aber können wir uns nicht duzen? Ich sieze nur Publikum, vor dem ich Angst habe, weil es sehr alt ist oder sehr gediegen.
Weil weder das eine noch das andere der Fall ist, sollten wir uns unbedingt duzen. Sebastian, kannst du also den „rasterelektronenmikroskopischen Blick“ genauer erklären?
Das heißt nichts anderes, als dass ich stehen bleibe und die Dinge, die uns umgeben, ernst nehme und mir genau angucke. Ich glaube, wir sind alle sehr beschleunigt im Leben und dauernd in Bewegung. Wir werden ständig dazu verführt, auf vieles zu gucken, was wir gar nicht brauchen. Wir nehmen im Fernsehen Anteil an dem Zebra, das Durchfall hat und um das sich der Tierpfleger rührend kümmert. Wir sollten uns aber vielmehr fragen, wie es uns geht, und nicht, wie es dem Zebra geht.
Du trittst mit einem Synthesizer auf und erzählst zum Beispiel davon, wie Frauen in Supermärkten „systematisch beleidigt, erniedrigt und auf ihre Mängel reduziert werden“, weil Aufdrucke auf Shampooflaschen ihr Haar als „strohig, platt, strukturgeschädigt, glanzlos oder leicht nachfettend“ bezeichnen. Wie kommst du darauf, daraus eine Nummer für die Bühne zu machen?
Zuerst fällt mir etwas auf, was mich als seltsam anspringt. So war es auch bei der Beobachtung: „Na nu!, auf den Shampooflaschen stehen ja Beleidigungen!“
Sebastian Nitsch wird am 13. November 1977 vier Minuten nach seiner Zwillingsschwester geboren und wächst in Berlin-Schmargendorf auf. Nach einigen Semestern Mathematik, Physik, Linguistik und Publizistik steigt er als Texter in die Werbebranche ein. Seit August 2010 steht er auf der Bühne - als "Alltagsphilosoph" und "Hellwachträumer".
Nach ersten Schritten auf offenen Bühnen wie dem Scheinbar Varieté folgen Auftritte im Zebrano-Theater, im Quatsch Comedy Club, dem Heimathafen Neukölln sowie Engagements außerhalb Berlins. Nitsch ist nominiert für zahlreiche Kleinkunstpreise, in Rostock wurde er Anfang März mit dem "Koggenzieher" in Silber ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Freundin in Prenzlauer Berg.
Als Vorbilder nennt er den verstorbenen deutschen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch, den Österreicher Josef Hader und den amerikanischen Stand-up-König Jerry Seinfeld, der ebenfalls die Alltagswelt seziert.
In dieser Woche ist Nitsch unter anderem in der Scheinbar in Schöneberg zu erleben, dort moderiert er von Mittwoch bis Samstag die offene Bühne. Am 13. April hat sein Soloprogramm "Unsterblichkeitsbatzen" im Zebrano-Theater offiziell Premiere. Weitere Termine unter: www.sebastiannitsch.de.
Wo hat dich diese Erkenntnis ereilt?
Ich saß auf dem Klo im Badezimmer meiner Freundin, sah die Shampooflaschen und habe gemerkt, dass die Aufdrucke die Frauen in die schwierige Situation bringen, sich zu entscheiden, ob sie brüchiges, strapaziertes, brüchiges oder rasch nachfettendes Haar haben. Frauen gehen also in den Supermarkt und müssen sich die Beleidigung aussuchen, die am ehesten zu ihnen passt. In dem Moment habe ich die Nummer schon am Wickel – und eine Einsicht, die ich mit anderen Menschen teilen kann.
Du hast Mathematik, Physik, Linguistik und Publizistik studiert. Konntest du dich nicht entscheiden?
Ich bin immer einem Gefühl gefolgt und wusste, wo ich hinwill. Bei Mathe und Physik bin ich einer Seite in mir nachgegangen, die sehr analytisch ist, wo es um Aussagelogik geht und auch darum, die Dinge ganz nah zu betrachten und Gedanken zu Ende zu führen.
Aber du hast keinen der Studiengänge zu Ende geführt.
Man kann sagen, dass ich mir ein Studium generale zusammengeklaubt habe.
Du bist dann als Texter in die Werbebranche gegangen. Woher kam das Bedürfnis, dich auf die Bühne zu stellen?
Dieses Bedürfnis habe ich vorher schon stark ausgelebt, weil ich die Werbeagenturen zu meiner Bühne gemacht habe, indem ich die Leute zugetextet habe. Das mit der Bühne hat sich aus dem Material ergeben, das ich hatte.
Was war das für Material?
Fragmente aus vielen Jahren, umherfliegende Ideen und Schubladen voller Zettel. Ich habe Filme gedreht, Comics gezeichnet, geschrieben – und das war sehr unbefriedigend. Wenn mich jemand gefragt hätte, was ich mache, hätte ich den Fragesteller nur als verfrühten Nachlassverwalter in mein Zimmer holen können. Irgendwann hatte ich dann einen gedanklichen Durchbruch.
Aha!
Mir wurde klar, dass man alles, was man macht, auf den einen Gedanken dahinter eindampfen muss. Früher hätte man gesagt, ein Aphorismus. Heute heißt das Gag, also eine überraschende Einsicht. Ich habe das ganze Material in eine Word-Datei überführt und eine Tabelle mit mehreren Kategorien angelegt: „Was ist seltsam an?“, „Was ist die überraschende Einsicht?“ usw. Dann habe ich die Gedanken weitergesponnen und systematisch in eine Ideenmatrix gebracht.
Was war die letzte Beobachtung, die du mit deinem „rasterelektronenmikroskopischen Blick“ eingefangen hast?
Gestern habe ich einen Kaugummi gesehen, auf dessen Verpackung „Wellness and Balance“ stand. Kaugummi wird aus dem gleichen Material hergestellt, aus dem auch Plastiktüten gemacht werden, und mit irgendwelchen Geschmäckern versetzt. Ich fand es absurd, dass wir etwas, was wir nicht mal nachkochen können, kaufen und dann noch das Versprechen „Wellness and Balance“ gelten lassen.
Du arbeitest neben der Bühne als Texter für Werbeagenturen. Theoretisch könnte der Spruch von „Wellness and Balance“ also von dir stammen. Beißt du nicht die Hand, die dich füttert?
Ich habe mit Sicherheit Versprechen verzapft, die die Produkte nicht einhalten, die aber zumindest bedeutungsmäßig damit verbunden werden konnten. Als Werbetexter habe ich das Credo gehabt, man muss die Wahrheit genau kennen, um gut lügen zu können. Ich nutze die Erfahrungen aus der Werbebranche, weil ich eine große Ähnlichkeit zur Bühne sehe.
Wo denn?
In der Werbung sitzt man manchmal leer und ratlos vor einem Produkt und muss etwas finden, woraus man etwas spinnen kann, was die Leute überzeugt, das Produkt zu kaufen. Diese Suche nach dem einen Gedanken, der das Produkt ausmachen könnte, ist durchaus verwandt damit, sich vor eine Sache zu stellen und sie ganz, ganz lange anzugucken. So wie die eingetretenen Kaugummis auf dem Boden am Hackeschen Markt. Bei denen ist mir irgendwann aufgefallen, dass da das Erbgut der Leute drin ist, die sie ausgespuckt haben. Die Kaugummis sind also kleine unzerstörbare Grabhügel.
An welchen Orten findest du den alltäglichen Wahnsinn?
Der Supermarkt ist ein guter Ort, weil wir dort die Gleichung im Kopf haben: „Ich zahle dafür, da muss es auch in Ordnung sein.“ Dann darf ein Schokoriegel auch Spuren von Erdnüssen enthalten. Wenn uns aber jemand was kocht und sagt, das Essen im Topf enthält Spuren von dem Gericht, was vorher darin gekocht wurde, sind wir irritiert. Wir kaufen der Verpackung also etwas ab, was wir Menschen so nicht abkaufen würden. Zwischenmenschliches ist ein weiteres sehr anregendes Thema. Ich behandle auch gern das kleine, kurzsichtige Glück.
Ach, das kleine Glück ist kurzsichtig?
Ja, es ist sehr kurzsichtig, und wir gehen oft achtlos über das kleine Glück hinweg. Wir müssen auf das kleine Glück zugehen und stillstehen, damit es uns mit seinen suchenden Händen findet. Es liegt an uns, dieses kleine Glück zu uns zu lassen. Ich hatte in meinem Leben lange große Schwierigkeiten, das kleine Glück gelten zu lassen. Ich bin immer sehr nach vorne gejagt und habe kaum gewürdigt, was ich schon erlebt hatte.
Hatte das mit der Werbebranche zu tun?
Ja, die Werbung ist eine geeignete Welt, um ganz schön Gas zu geben. Es ist eine große Energie in meinem Wesen, die mich zeitweise auch meinen Körper vergessen ließ. Ich aß unregelmäßig und wunderte mich über Stimmungswechsel. Es musste mir erst schlecht gehen, bis ich gemerkt habe, dass ich nicht in einer Raketenkapsel sitzen will, die zwar immer weiter vorankommt, aber nicht landen kann.
Wann hast du das kleine, kurzsichtige Glück zuletzt wahrgenommen?
Als ich mich heute von meiner Freundin verabschiedet habe, hat es seinen kleinen Zeigefinger ausgestreckt, auf diese Frau gezeigt, und ich wusste, dass ich ein sehr glücklicher Mensch bin.
Oh, das ist ja herzallerliebst. Da würden jetzt viele Frauen im Publikum vor Rührung seufzen.
Ich will aber auch nicht, dass wir alle stillstehen, um das kleine Glück am Bürotisch zu würdigen, während der Chef die Präsentation bis zum nächsten Morgen im Eingang haben will. Es kann einem jedoch zwischendurch einfach bewusst sein, dass irgendetwas, das uns glücklich machen kann, immer da ist.
Reagieren Männer und Frauen eigentlich unterschiedlich auf deine Beobachtungen des Alltags?
Ja, sehr. Männer sind oft reservierter, und Frauen haben aus meiner Sicht weniger Barrieren, um zu reagieren. Sie sind offener, lachen, gehen mit, und in der Tat entschlüpft ihnen öfter mal ein „Oh“. Sitzt ein Mann neben einer Frau, wird sie oft von ihm beobachtet. Wenn sie lacht, dann ist das für ihn die Erlaubnis oder vielleicht auch die Pflicht, ebenfalls zu lachen. Frauen haben mir zum Beispiel Mails geschickt, dass ihre Freunde tatsächlich die Aufdrucke auf Shampooflaschen überklebt haben.
Kommt da der Werbemensch in dir nicht sofort auf die Idee, selbst entworfene Etiketten unter das Publikum zu bringen?
Ja, unbedingt. Bei den Soloshows, die jetzt anfangen, biete ich Etiketten an, die man als kleine Erinnerung an den Abend mitnehmen kann.
Ist es dir schwer gefallen, den recht guten Verdienst in einer Werbeagentur gegen ein unsicheres Bühnendasein einzutauschen?
Das war ein Prozess. Ich habe lange geschrieben, um für mich Sicherheit zu haben. Dann ging es erfreulich gut voran, und ich bin in der Werbung auf Teilzeit gegangen. Bald darauf wurde ich freier Texter, was ich bis heute immer mal wieder mache. Ich würde es ganz loslassen, wenn mich die Bühne ganz finanzieren würde. Aber mit dem Texten kann ich mir Freiheit auf der Bühne erkaufen.
Weil du dann nicht unter dem Druck stehst, dir mit den Auftritten die Miete verdienen zu müssen?
Ja, statt unter finanziellem Erfolgsdruck zu stehen, kann ich einfach sprudeln und gucken, ob es gelingt. Seit einiger Zeit arbeite ich mit einer Agentin, und da gibt es auch wirtschaftliche Ziele. Aber wenn ich 2013 nicht von der Bühne leben kann, werde ich einfach weiter nebenher texten.
Du trittst erst seit Sommer 2010 auf und hattest vor Kurzem die Vorpremiere deines ersten Soloprogramms. Bist du vom Erfolg überrascht?
Ich freue mich zu sehr, um überrascht zu sein. Freude über den Erfolg ist der Rückenwind für meine Entdeckungsreise. Das war von Anfang an so: Von Mittwoch bis Sonntag kann man in Berlin auf offenen Bühnen stehen. Als ich merkte, dass die Reaktionen gut waren und es mir Spaß machte, bin ich jeden Abend zu offenen Bühnen gegangen und habe das gelebt. Irgendwann fühlte es sich so gut an, dass ich dem weiter gefolgt bin. Es reitet mich aber auch der Wunsch, mit meinen Beobachtungen nicht allein zu sein.
Weil man sonst durchdrehen könnte?
Wenn man sehr nah an Themen rangeht, laufen übergroße Beobachtungen Gefahr, dass sie sich nach Wahnsinn anfühlen. Wenn man die aber mit Leuten teilt und sie lachen, weil sie etwas aus ihrem Leben wiedererkennen, entspannt sich alles wieder. Sieht man das alles zu streng, kann man sehr schnell auf große, systemkritische Gedanken kommen.
Und müsste, wenn man ganz konsequent wäre, sich von dieser Welt abwenden und zum Aussteiger werden?
Ja. In dem Augenblick, in dem man stehen bleibt und etwas genauer anschaut, sieht man automatisch Dinge, die uns Menschen nicht dienen. Ich trage in mir aber nicht den Wunsch, auszusteigen oder etwas zu predigen. Das ist mir zu anstrengend. Die Bühne hilft mir, eine gewisse amüsierte Entspannung reinzukriegen. Wenn man etwas mit einem komischen Blick sieht, kommt man besser damit klar. Es ist ein großes Gefühl, wenn sich Leute im Theater oder wo auch immer zusammenschließen und einfach nur darüber lachen, wie schräg die Welt ist, zu der wir jeden Tag „Ja“ sagen.
Kann man dich mal schnell in den Supermarkt schicken, wenn eine Zutat beim Kochen fehlt?
Für einige Nummern bin ich bewusst Supermarktgänge abgelaufen und habe dabei in mein Handy gesprochen. Aber ich bin durchaus in der Lage, ganz normal einkaufen zu gehen. Immer wach zu sein, ist auch anstrengend.
Als Texter willst du Produkte an den Mann bringen. Was willst du als Künstler auf der Bühne bei den Menschen erreichen?
Ich freue mich, wenn die Leute lachen. Oft wird Lachen aber missverstanden als einziger Widerhall auf eine gute Nummer. Es ist genauso gut, wenn die Leute zuhören und nach der Show jemand kommt und sagt, er habe an Zwieback mit Butter gedacht, den die Oma immer gemacht hat, weil ich vom Pferdehaarsofa meiner Oma erzählt habe. Ich möchte die Leute anstecken mit dem Stillstehen und Gucken. Es beglückt mich, wenn sie Kundschafter im eigenen Leben werden!
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