: Die Spuren der Gewalt
Die unabhängige arabische Kunstszene erlebt derzeit eine Renaissance. Das Festival Homeworks, das nun schon zum dritten Mal in Beirut stattfindet, entwickelt sich zu deren wichtigstem Forum
VON DANIEL BAX
Das Taxi fährt eine ganze Weile, bis es das mehrstöckige Lagergebäude erreicht, das abseits einer vielbefahrenen Autotrasse mitten in einem tristen Industriegelände liegt. Vor dem Gebäude stehen nur ein paar Gestalten im Halbdunkel, die Szenerie erinnert an den Eingang eines illegalen Technoschuppens in Berlin in den Neunzigerjahren. Gelangt man über das düstere Treppenhaus in den vierten Stock, tritt man in eine gänzlich andere Welt ein: in die grell erleuchteten Ausstellungsräume der Sfeir-Semler-Galerie, in der das Beiruter Kulturfestival Homeworks an diesem Tag mit einer Vernissage seine Eröffnung feiert.
Mit dem obligatorischen Glas Rotwein streift das Publikum durch die Gänge, betrachtet Fotoaufnahmen aus der U-Bahn in Kairo oder einen Videofilm, der in schneller Folge die Angestellten eines Siemens-Werks in Schanghai zeigt, die eine Rede von Deng Xiaoping von 1992 rezitieren. Auch die libanesische Fondation Arabe pour l’Image ist mit einem Projekt vertreten. In den acht Jahren seines Bestehens hat dieses Künstlerkollektiv aus Beirut mit über 150.000 Bildern das größte Fotoarchiv des Nahen Ostens zusammengetragen. In ihm spiegelt sich gleichsam die Geschichte der arabischen Moderne, womit es weltweit Berühmtheit erlangte.
Beim Homeworks-Festival werden nun historische Aufnahmen aus dem Bestand des Porträtfotografen Hesham El-Medani ausgestellt, der in der südlibanesischen Kleinstadt Saida seit den Fünfzigerjahren ein Fotostudio betreibt. In seinem Atelier hat er die wechselnden Moden (großartige Sonnenbrillen aus den Siebzigerjahren!) wie die patriarchalischen Sitten seines Ortes festgehalten: Frisch verheiratete Ehepaare kamen einst ebenso zu ihm wie palästinensische Befreiungskämpfer, die mit Maschinengewehr vor der Kamera posierten. Man sieht, dass es bei neu geborenen Jungs früher üblich war, stolz deren Genitalien auszustellen. Dass sich ein Paar vor der Kamera küsste, kam dagegen nicht vor: Die einzigen dokumentierten Kussszenen zeigen Männer mit Männern und Frauen mit Frauen, die ihre von Hollywood-Filmen inspirierten Kussfantasien mit einem Partner des gleichen Geschlechts inszenierten, denn nur das war im konservativen Klima dieser Kleinstadt akzeptabel.
Das Homeworks-Festival in Beirut hat sich inzwischen zum wichtigsten Forum für die zeitgenössische arabische Kunstszene etabliert. Zum dritten Mal reisten auch dieses Jahr wieder Künstler und Kulturschaffende aus allen Ecken der arabischen Welt nach Beirut, wo der Rummel im Foyer des Masrah-Theaters, dem zentralen Veranstaltungsort des Festivals, von der Renaissance einer arabischen Kulturszene zeugt, die in den Achtzigerjahren einen stillen Tod gestorben zu sein schien. Doch seit einigen Jahren blühen allerorts wieder neue, unabhängige Initiativen auf, die auch im Westen aufmerksam registriert werden. Dem Fotografen und Videokünstler Akram Zaatari, Mitbegründer der Fondation Arabe pour l’Image, ist dieser Hype bereits ein wenig suspekt: Zu viel Umarmung könnte ein so zartes Pflänzchen schließlich auch erdrücken.
Beirut bietet sich für ein solches Festival geradezu an, schließlich knüpft die Stadt damit wieder an alte Traditionen als liberales Tor zum Westen an. Dabei gleicht das Stadtbild selbst noch vielerorts einem jener vergilbten Fotos, wie sie die Fondation Arabe pour L’Image sammelt. Denn bis auf das im Disneyland-Stil wieder aufgebaute Stadtzentrum von Beirut, gegen dessen sterile Atmosphäre sich selbst das neue Regierungsviertel in Berlin wie eine organisch gewachsene Stadtlandschaft ausnimmt, sind an vielen Häusern und Fassaden noch die Spuren des Bürgerkriegs und des langjährigen Verfalls zu sehen.
Das Stadtzentrum ist heute eine von Fastfood-Restaurants, Banken und Edelboutiquen dominierte Hochsicherheitszone, die von einer Armada von Sicherheitsbeamten bewacht wird: Ein Musterbeispiel für Gentrifizierung. In den Straßencafés sitzen ausschließlich betuchte Libanesen, die es sich leisten können, ihre Kinder währenddessen von ihren philippinischen Hausmädchen betreuen zu lassen.
Im Virgin Megastore, von dessen Dach aus man einen fantastischen Blick über das neue Zentrum hat, kann man schicke Bildbände erstehen, die dessen Rekonstruktion aus den Ruinen des Bürgerkriegs in Vorher-nachher-Manier feiern. Unweit davon, an der riesigen Freifläche des Märtyrerplatzes, liegt in einem großen, schmucklosen Zelt der Sarg von Rafik Hariri aufgebahrt. Blumen schmücken das temporäre Mausoleum des ermordeten ehemaligen Präsidenten, der bald eine feste Ruhestätte finden soll.
Während die Narben im Stadtbild allmählich unter Spritzbeton verschwinden, bleiben die weniger sichtbaren Wunden des Bürgerkriegs ein zentrales Thema vieler libanesischer Künstler. In dem Stück „Who’s Afraid of Represantation“, das beim Homeworks Festival aufgeführt wurde, haben die beiden Schauspieler Lina Saneh und Rabih Mroué den wahren Fall des Hassan Maamoum verarbeitet, eines ehemaligen Milizenchefs, der nach dem Krieg ein Massaker unter Arbeitskollegen angerichtet hat. Lina Saneh zitierte dazu auf der Bühne aus einem Buch über berühmte Performances westlicher Aktionskünstler wie Valie Export, Marina Abramovic oder Joseph Beuys, deren spektakuläre Selbstkasteiungen sie mit Stationen des libanesischen Bürgerkriegs in Verbindung setzt. Je absurder die Beispiele von Autoaggression und Selbstverstümmelung werden, die sie in allen schmerzhaft expliziten Details vorträgt, desto detaillierter fächert Rabih Mroué die Selbstrechtfertigungen des Amokläufers auf, mit denen sich dieser später vor Gericht verteidigte.
Der Filmemacher Fouad Elkoury dagegen gibt in seinem Film „Welcome to Beirut“ einen Einblick in die gegenwärtige Seelenlage der libanesischen Mittelschicht. Er hat einen Tag lang mit der Kamera eine Freundin begleitet, die Bemerkungen eines Ladenbesitzers aus der Nachbarschaft aufgezeichnet und den Innenstadtverkehr von Beirut dokumentiert. So hört man die Gespräche der Freundin beim Friseur und im Auto mit, in der sie über den grassierenden Trend zu Schönheitsoperationen im Libanon sinniert oder über die Wirkung von halbnackten Models auf Plakatwänden in einem Land, in dem bei aller zur Schau getragenen Modernität das öffentliches Küssen auf der Straße noch immer verpönt ist. Das libanesische Bürgertum, so der Eindruck, kreist vorwiegend um sich selbst. Im Foyer des Theaters liegen derweil fiktive U-Bahn-Karten eines Künstlers aus: Darauf ist die einstige Green Line zwischen den Bürgerkriegs-Sektoren als eine Art Umsteigezone für alle Linien markiert. Die Erinnerung an die Vergangenheit wird in Beirut eben allerorten von neuen Bedeutungen überlagert.
Wie die Zukunft des Landes nach dem Hariri-Mord und dem Abzug der syrischen Truppen aussehen könnte, das konnte ein vierköpfiges Diskussionspanel allerdings auch nicht klären. Der Journalist Wissam Saadeh, der den Libanon mit einem deutschen Wort als „Lumpendemokratie“ charakterisierte, mochte allerdings an keine der beiden großen Erzählungen anknüpfen: Weder drohe das Katastrophen-Szenario einer Wiederkehr des Bürgerkriegs, noch sei der „historische Kompromiss“ zwischen den rivalisierenden Fraktionen und Konfessionen in Sicht, befand der bärtige Publizist: Man müsse sich jetzt eben an eine Politik der kleinen Schritte gewöhnen.
Den Künsten kommt in diesem Prozess allerdings bestenfalls eine periphere Rolle zu: Zu marginal ist ihre Bedeutung, zu gering ihre Wirkung auf die Mehrheit der Bevölkerung. Dass ein Theaterstück wie „Who’s Afraid of Representation“ mit seiner provokanten und sexuell expliziten Sprache in Beirut keinerlei Proteste hervorruft, ist vermutlich nicht übergroßer Toleranz und Liberalität geschuldet. Es liegt vermutlich eher daran, dass eine konservative Öffentlichkeit davon gar nichts mitbekommt.
So weltläufig sich die unabhängige arabische Kulturszene auch präsentiert, so überschaubar ist sie doch zugleich. Außerdem hängt sie, aufgrund fehlender Finanzierung durch den Staat, fast vollständig am Tropf westlicher Geldgeber. Bei einer Diskussionsrunde am Rande des Homeworks-Festivals versuchte Moukhtar Kocache, der bei der US-amerikanischen Ford Foundation für die Kulturförderung im Nahen Osten zuständig ist, die Zusammenarbeit zwar als einen Dialog von gleichberechtigten Partnern darzustellen. Doch unübersehbar ist, dass die Finanzierung zuweilen mit politischen Zielen verbunden ist und den wechselnden Launen westlicher Stiftungen unterliegt.
Bezeichnenderweise verteilte sich der gesamte Homeworks-Crowd abends nach den Veranstaltungen auf genau drei Lokale im Beiruter Boheme-Viertel Hamra. Die eigentlichen Partymeilen der Stadt, in denen sich die hedonistische Oberschicht vergnügt, liegen weit entfernt davon, in den christlichen Vierteln von Ostbeirut. Hier reihen sich die Autos am Wochenende in den einschlägigen Straßen Stoßstange an Stoßstange, und aus den Bars und Clubs tönt laute House-Musik und arabischer Pop. Das Einzige, was diese Kommerzfallen des Beiruter Nightlife-Mainstreams mit den Oasen der Off-Kultur verbindet, in denen sich die Kultur-Boheme trifft: Nach ein Uhr werden hier wie dort die Stühle zur Seite geschoben und es wird nach orientalischer Art auf den Tischen getanzt. Wie das im Libanon eben so üblich ist.
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