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Pro & Contra PiratenparteiEine politische Eintagsfliege?

Die Piratenpartei sitzt in zwei Landtagen und könnte es auch im Bund schaffen. Ihre Kritiker nennen sie weiter "Ein-Themen-Partei". Beginnt bald der Niedergang? Ein Pro und Contra.

Krawatten tragen sie auch schon. Bild: dpa

Pro

Zwei Gefühle blähen derzeit die Segel der Piraten: Wut und Eitelkeit. Wut auf die etablierten Parteien und deren Repräsentanten, die in ihrer Gesamtheit von einem beständig wachsenden Teil der Bevölkerung als inkompetent, als egoistisch, als fantasielos, als weit entfernt vom Leben der Durchschnittsbürger gesehen werden. Und die Eitelkeit, klüger zu sein als frühere Generationen, also keinesfalls den Fehler wiederholen zu wollen, den die Großeltern im Hinblick auf die Grünen gemacht haben.

Die hatten vor gut 30 Jahren der damals neuen Partei herablassend erklärt, dass und warum sie nicht ernst zu nehmen sei. Um dann über Jahre hinweg jeden Wahlerfolg als Betriebsunfall zu werten, der von den Erwachsenen schnell korrigiert werden würde. Wie wir heute wissen, zeugte das von historischer Bewusstlosigkeit.

Die Autoren

Bettina Gaus

ist politische Korrespondentin der taz. Zuvor leitete die studierte Politologin das Parlamentsbüro unserer Zeitung, war taz-Korrespondentin in Nairobi und Redakteurin der Deutschen Welle. Ihr neuestes Buch, "Der unterschätzte Kontinent: Reise zu den Mittelschichten Afrikas", erschien im Herbst vergangenen Jahres bei Eichborn.

Daniel Bax

ist Redakteur im Inlandsressort der taz; davor hat er in den Ressorts Kultur sowie Meinung und Debatte gearbeitet. Er schreibt seit Jahren über Einwanderungsthemen und Migrationsdebatten, über Außenpolitik und Popkultur. Er hat Publizistik und Islamwissenschaft studiert und zählt eher zu den digital immigrants" - er ist bei Facebook, aber er twittert nicht.

Das soll nicht noch einmal passieren. Derart spießig und engstirnig wie frühere Generationen will niemand sein. Seit Jahrzehnten kann sich deshalb eine neue Partei oder eine Bewegung gar nicht so blöd anstellen, dass sie nicht vom ersten Wahlerfolg an ehrfürchtig als Botschafterin einer vielversprechenden Zukunft betrachtet werden würde. Davon hat zu Beginn des Jahrtausends sogar eine so unsägliche Zusammenrottung wie die des Rechtspopulisten Ronald Schill in Hamburg profitiert.

Nun besteht die Piratenpartei weder aus Rechtspopulisten noch gar aus Idioten. Im Gegenteil: Immer mal wieder veröffentlichen Leute, von denen man noch nie gehört hat, aber gerne mehr hören würde, ausgesprochen kluge Texte. Beispielsweise zu der bedrohlichen Machtkonzentration, die gigantische Informationskonzerne wie Google, Amazon und Apple auf sich vereinigen und mit der sie immer größere Lebensbereiche der Bevölkerung beherrschen. Dass derlei Themen von den Altparteien sträflich vernachlässigt worden sind, ist unbestreitbar. Hinweise darauf, dass sich einzelne Fraktionskollegen doch schon lange mit Netzpolitik befasst hätten und die Bedeutung des Internets erkannt sei, klingen bestenfalls hilflos. Und wenn Peter Altmaier von der CDU die Öffentlichkeit daran teilhaben lässt, wie er das Twittern entdeckt, dann wird es sogar lustig.

Aber ein Zusammenschluss kluger Fachleute mit demselben Spezialinteresse ist eben noch keine Partei. Aus keinem einzelnen Anliegen heraus lässt sich ein übergreifendes Gesellschaftsbild erarbeiten – und sei das Anliegen noch so wichtig. Wer von Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Rechtspolitik nichts versteht, wird weder erfolgreich gegen Militarisierung der Außenpolitik noch für soziale Gerechtigkeit oder wirksamen Umweltschutz kämpfen können. Um einige andere Kernthemen zu nennen. Was für diese gilt, gilt auch für Netzpolitik.

Nun bestreiten die Piraten das ja gar nicht, und sie zeigen sich durchaus lernwillig. Möglicherweise sind sie auch lernfähig. Aber wenn sie erst einmal denen ähneln, von denen sie sich jetzt zu unterscheiden wünschen, dann sind sie für ihre bisherigen Anhänger nicht mehr attraktiv. Vermutlich gewinnen sie in Nordrhein-Westfalen, vielleicht reicht es auch noch für den Einzug in den nächsten Bundestag. Sollten sie dort jedoch konstruktiv mitarbeiten, dann werden sie schnell als Verräter gelten.

Denn die Wählerinnen und Wähler der Piratenpartei sind bislang vor allem Protestwähler. Die Stimmen kommen von Erstwählern, von vormaligen Nichtwählern – und außerdem aus den Lagern aller etablierten Parteien. Glaubt irgendjemand, dass diese bunte Mischung vor allem die Sehnsucht eint, dem Urheberrecht zu Leibe zu rücken? Ach, Unfug. Denen „da oben“ will man es zeigen, wie und womit auch immer. Für diesen Wunsch bieten die Piraten nur so lange ein Ventil, wie sie nicht verdächtigt werden, mit den Herrschenden gemeinsame Sache zu machen.

Das ist alarmierend. Es ist eine Binsenweisheit, dass nicht etwa Oppositionsparteien gewählt, sondern Regierungen abgewählt werden. Jeder Regierungswechsel ist immer auch eine Protestwahl. Wenn aber der Punkt erreicht ist, an dem das Establishment als Ganzes von einem nennenswerten Teil der Bevölkerung nur noch verachtet wird, dann bedroht jede Anpassung an eingespielte Regeln eine neue Partei in ihrer Existenz, und die Schlange beißt sich in den Schwanz. Anders ausgedrückt: Gerade der Erfolg der Piraten zeigt, wie schwer es eine neue Partei – jede neue Partei – langfristig haben wird.

(Bettina Gaus)

Contra

Wer nach ihrem Einzug ins zweite Landesparlament noch glaubt, die Piraten seien eine Eintagsfliege, der verkennt die Grundlage ihres Erfolgs. Und wer weiter meint, das sei eine Einthemenpartei, die für „irgendwas mit Internet“ stehe, zeigt nur, dass er sich bisher nicht ernsthaft mit den Piraten beschäftigt hat. Dafür ist es jetzt Zeit, bevor sie auch in Kiel und Düsseldorf ins Parlament einziehen – und nächstes Jahr in den Bundestag.

Der Erfolg der Piraten beruht darauf, dass sie radikale, im besten Sinne sozialliberale Forderungen mit neuen Politikformen – direkter Demokratie und Onlinekommunikation – verbinden. Das mag die zeitgemäße Form sein, die sie für viele jüngere Wähler attraktiv macht. Aber ohne das Bündel an politischen Ideen, mit dem die Piraten neue Farbe ins grau gewordene Parteienspektrum bringen, ist ihr Erfolg nicht zu erklären.

Allen Zweiflern zum Trotz, die den Piraten eine diffuse Programmatik unterstellen, vertreten sie bei einer ganze Reihe von Themen klare Positionen. In Berlin und im Saarland waren sie sogar die einzige Partei, die auf ihren cleveren Plakaten konkrete Ziele formulierte. Während die anderen Köpfe plakatierten, setzten die Piraten ganz altmodisch auf Inhalte – und zeigten damit, dass sie ihre Wähler ernst nehmen, statt sie als Zielgruppe für oberflächliche Werbebotschaften zu missbrauchen. Genau dafür wurden sie belohnt.

Zu den Forderungen der Piraten gehört nicht nur ihr zentrales Anliegen, „Netze in Nutzerhand“, sondern auch der Ruf nach mehr direkter Demokratie, mehr Partizipationsmöglichkeiten, mehr Transparenz. Hinzu kommt der Wunsch nach einer anderen Bildungspolitik, der vollen rechtlichen Gleichstellung von sexuellen Minderheiten und Einwanderern sowie der Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre. Sie spiegeln damit das urbane Lebensgefühl eines Milieus wider, das sich bisher bei Grünen oder Linkspartei zu Hause fühlte. Aber die Piraten gehen in vielen Punkten weiter, als diese sich das heute trauen würden – etwa mit ihren Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, der Legalisierung weicher Drogen, einer strikteren Trennung von Staat und Religion sowie kostenlosem Nahverkehr.

Weil die Piraten keine Angst haben, mögliche Mehrheiten zu verprellen, erlauben sie sich den Luxus, Maximalforderungen zu erheben – und bringen damit ein utopisches Element in die Politik zurück, das bei den anderen Parteien längst verloren gegangen ist. Ihr Selbstbewusstsein kommt nicht von ungefähr: Wer gesehen hat, wie das Internet die Welt zusammengerückt hat, wie Revolutionen durch soziale Netzwerke ausgelöst und Regime zum Einsturz gebracht werden, der lässt sich eben nicht mehr jeden lauwarmen Kompromiss als „alternativlos“ verkaufen.

Es ist lustig, zu sehen, wie die etablierten Parteien – Grüne und Linke inklusive – darauf mit den gleichen Reflexen und Vorbehalten reagieren, wie einst auf Grüne und Linke reagiert wurde: Das ist doch bloß eine Protestpartei! Diesen Kindergarten kann man nicht ernst nehmen! Die wollen doch bloß spielen!

Dieses Unverständnis erinnert an die Reaktionen der Live-Rock’-n’-Roller und Punks, als in den 1990ern Techno aufkam: Ist das überhaupt Musik? Das hört sich doch alles gleich an! Wo bleibt da die Rebellion? Trotzdem haben elektronische Klänge die Musikwelt revolutioniert – genauso wie der Erfolg der Piraten bereits jetzt die etablierte Politik verändert. Das erkennt man nicht nur daran, dass immer mehr Politiker twittern und auch Angela Merkel auf Video-Podcasts und „Bürgerdialog“ setzt, sondern auch an dem neuen Schwung in den Debatten über Datenschutz und Copyright.

Dass ausgerechnet Grüne die Piraten heute auf ein bloßes Abfallprodukt neuer Kommunikationstechnologien reduzieren wollen, zeugt von Vergesslichkeit. Schließlich hatte auch die Alternativbewegung, aus der die Grünen hervorgingen, ihr Aufblühen in den 1980er Jahren nicht zuletzt dem technischen Fortschritt zu verdanken: Fotokopierer machten es möglich, Flugblätter und Szenehefte leicht und billig zu vervielfältigen, durch freie Radios und eigene Zeitungen wie die taz entstand eine „Gegenöffentlichkeit“. Nicht anders artikuliert sich die „Schwarmintelligenz“, der die Piraten heute eine Stimme geben, in neuen Kanälen und sozialen Netzwerken. Bislang formulieren die Piraten nicht viel mehr als ein Versprechen. Aber: Sie sind gekommen, um zu bleiben.

(Daniel Bax)

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19 Kommentare

 / 
  • GR
    Gabriele Rack

    Ein kritischer aber gleichzeitig sehr ausgewogener Kommentar von Frau Gaus ohne künstliche Übersteigerungen. VOr allem im Vergleich mit dem substanzlosen Geschreibe der Contra-Seite.

  • I
    ich

    das ist ja lustig: hier haben die piraten noch utopien, woanders konnte man lesen, sie seien so erfolgreich, weil sie post-ideologisch seien. was denn nun?

     

    die kernfrage ist aber: wo ist der programmatische platz im partiengefüge für noch eine linke partei, die sich selber als bürgerlich charakterisier? nirgends eigentlich..

  • OS
    Olaf Schröder

    Dialektischer Besinnungsaufsatz???

    Nun, wenn diese Partei allein schon jetzt erreicht, dass die "etablierten" reagieren (wie in contra beschrieben), besitzen sie bereits jetzt das Potential der Ur-Grünen (Fundies&Realos). Hier denke ich an Umweltschutz im GG, als Beispiel. Knowledge is Power! Und wir werden uns (mttelfristig) auf ein 6 Parteien-System einstellen müssen. Ich und meine Frau werden sie wählen! Sie sind Stimme all derer, die einen Wandel für erforderlich halten. Was Realpolitik mit ihnen machen wird, bleibt ab zu warten, denn Macht macht (oft) komisch!

  • H
    herr-von-nebenan

    Wer immer noch denkt, dass politische Parteien irgendetwas an den bestehenden Macht- und Ausbeutungsverhältnissen ändern werden, glaubt sicher auch noch an den Weihnachtsmann. Ich kann nur hoffen, dass die Piraten eine wirkliche gesellschaftliche Transformation durchlaufen werden (wie er sich weltweit gerade in der Occupy-Bewegung manifestiert) und irgendwann keine Partei mehr sein werden. Aber Macht korumpiert. Ich wünsche jeden Einzelnen von ihnen die Stärke, sich von dieser Macht nicht überrumpeln zu lassen.

  • R
    reni

    @Daniel Bax: mal ein gut informierter Artikel über die Piraten, vielen Dank

  • B
    Beelzebub

    Zitat Gaus: "Wer von Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Rechtspolitik nichts versteht, wird weder erfolgreich gegen Militarisierung der Außenpolitik noch für soziale Gerechtigkeit oder wirksamen Umweltschutz kämpfen können." Zitat Ende

     

     

    Und das ist der erfolgreiche Kampf der "Grünen":

     

    Gegen Militarisierung der Außenpolitik:

    Völkerrechtswidriger Angriffskrieg im Kosovo durch den ersten Kriegsaußenminister seit Ribbentrop - ein "Grüner" (*verächtlich ausspuck*). Nicht mal zur Abschaffung der Wehrpflicht hat es gereicht, dafür musste erst ein Hochstapler aus der CSU kommen.

     

    Für soziale Gerechtigkeit:

    Zustimmung der "Grünen" zu Hartz IV, dem umfangreichsten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik.

     

    Wirksamer Umweltschutz:

    Die "Grünen" haben sich als zu unfähig und zu feige erwiesen, ihren Koalitionspartner SPD zur Umsetzung von deren eigenem Beschluss zum Ausstige aus der Atomkraft (innerhalb von 10 Jahren) zu bringen, ganz zu schweigen von der Unfähigkeit, ihren eigenen Beschluss zum Sofortausstieg auch nur ansatzweise umzusetzen.

     

    Um aus der Atomkraft wirklich auszusteigen, musste erst eine CDU-Regierung kommen.

  • PA
    Pirat Arrrrr

    Ich denke mal mit den Piraten wird es wie mit den Grünen sein.

    Aus einer tollen Idee geboren, setzt sich immer weiter durch, weitet das Parteiprogramm aus, kommt irgendwo mal mit in die Regierung, wird von machtgeilen Affen durchsetzt und ist am Ende auch nur eine normale Volksfeindliche Partei wie SPD, CDU, Grüne, oder FDP.

    Damit das nicht passiert müssen die Piraten gewaltig aufpassen. Denn sie haben großes Potential wieder einen Hauch von Demokratie ins Land zu bringen.

    Man stelle sich die Linken in einer Koalition mit den Piraten vor. Aber jetzt fange ich an zu träumen.

  • T
    tazitus

    Wenn man PARTEIN auseinander nimmt und neu zusammen setzt kommen "PIRATEN" raus. Natürlich werden die bleiben.

  • AM
    Andreas Müller

    Beide Autoren, sowohl Frau Gaus als auch Herr Bax, konstatieren als einen Grund für den phänomenalen Erfolg der Piraten den politisch-moralischen Bankrott der etablierten Parteien bzw. der herrschenden Eliten und der gebildeten Stände, die ebenfalls Nutznießer der herrschenden Gesellschaftsform sind, welche einen Großteil der Bevölkerung von der Teilhabe an dem gesellschaftlich produzierten materiellen und kulturellen Reichtum ausschließt.

     

    Frau Gaus erfüllt das mit Sorge, Sorge um den Bestand ebendieser Zustände. Insofern ist ihre triviale Feststellung: "Wer von Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Rechtspolitik nichts versteht, wird weder erfolgreich gegen Militarisierung der Außenpolitik noch für soziale Gerechtigkeit oder wirksamen Umweltschutz kämpfen können", ziemlich scheinheilig. Wer bitteschön macht denn von diesem Spezialwissen einen kämpferischen Gebrauch? Das grün-alternative Milieu und ihre politische Parteiung etwa? Nicht zu Unrecht wird gesagt, dass nur eine rot-grüne Bundesregierung deutsches Militär hat für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg benutzen können, ohne massive Proteste einer mehrheitlich (vor-politisch) pazifistisch gestimmten Bevölkerung hervorzurufen. Die schändliche Begründung dieses u.a. mit Streubomben geführten Krieges als notwendige Lektion von Auschwitz blieb ebenfalls einem grünen Minister vorbehalten. Betrachtet man das derzeitige politische Führungspersonal der Grünen (um von den anderen staatstragenden Parteien gar nicht erst zu sprechen) so fällt es zwar schwer, auch nur für einen Moment kontrafaktisch anzunehmen, dort wäre solches Wissen vorhanden, was Sie, Frau Gaus, bei den Piraten vermissen-, doch unterstellen wir das für den Moment: Wozu taugt es? Für eine Kritik an der liberal-konservativen Regierung, die inhaltlich nicht viel an deren Politik, vor allem aber das auszusetzen hat, dass sie nicht unter Beteiligung der Partei Bündnis90/Die Grünen realisiert wird. Ihre Sorge, Frau Gaus, um den Bestand der herrschenden Zustände verstehe ich voll und ganz, ihre Forderung nach einer informiert angeleiteten kämpferischen Politik ist hingegen durch und durch heuchlerisch. Sie werden mir nicht weismachen wollen, dass Ihre Kritik an den herrschenden Zuständen eine radikale Veränderung der bestehenden Gesellschaft und ihrer Eigentumsordnung zum Zweck hat. Wer das will, spricht anders.

     

    Was Sie des weiteren übersehen, ist, dass die politische Energie der Generation, der wir angehören vollkommen erschöpft ist. Selbst von denen abgesehen, welche den Marsch durch die Institutionen vortrefflich mit ihren persönlichen Ambitionen zu verbinden wussten, ist nichts als eine vollständige intellektuelle Trostlosigkeit geblieben. Was sie auf ihr Erstgeburtsrecht pochend gegen die Piraten-Partei vorzubringen hat, ist deshalb kläglich der politisch-theoretischen Substanz, aggressiv-larmoyant dem politisch-psychologischen Gestus nach, wie etwa Hans-Christian in Reaktion auf den Einzug der Piraten in das Berliner Abgeordnetenhaus im September vergangenen Jahres [http://www.taz.de/!78735/]. Von dieser, von meiner Generation, die Sie vielleicht auch noch - politisch sozusagen - als die Ihre betrachten, von dieser Generation ist nur noch semantischer Müll zu erwarten, von dem sich die nachfolgenden Generationen befreien müssen, sofern sie denn wirklich an einer Veränderung der herrschenden Verhältnisse interessiert sind.

     

    Die Piraten definieren sich weder theoretisch noch praktisch in der Tradition linker Gesellschaftskritik. Sie pochen auf einen radikal anderen Politikstil. Das trägt ihnen u.a. den Widerspruch ein, sich netzwerkartig organisieren zu wollen, sich gleichzeitig aber auch um der Teilhabe am demokratisch-parlamentarischen Machtgefüge als Partei formieren zu müssen. Dieser organisatorische Hiatus, hinter dem unvereinbare politische Konzeptionen stecken, wird die Partei der Piraten über kurz oder lang in eine Zerreißprobe verwickeln. Allein schon, dass sie das Ende linker Poltik in parteiförmiger Gestalt, in Gestalt einer überkommenen (staats-)sozialistischen Ideologie und ihrer auf Propaganda herabgewirtschafteten Sprache, allein das schon ist ein großes Verdienst ihres unbekümmerten Auftritts auf der politischen Bühne. Schließlich gehört zu den schlimmsten Hinterlassenschaften des realen Staatssozialismus die vollkommene Diskreditierung der radikalen Gesellschaftskritik, für die sich keine Sau mehr zu interessieren scheint. Das wird sich in dem Maße zunehmend ändern, als das Unbehagen an den herrschenden Zuständen anfangen wird, nach seiner eigenen Tiefengrammatik zu fragen.

     

    Am Ende, Herr Bax, hat der Punk doch recht behalten gegenüber dem rauschenden Müll der Techno-Beats. Oder etwa nicht?

     

    Mit freundlichen Grüßen

    Andreas Müller

  • AW
    Adam Weisshaupt

    "... die Wählerinnen und Wähler der Piratenpartei sind bislang vor allem Protestwähler. Die Stimmen kommen von Erstwählern, von vormaligen Nichtwählern – und außerdem aus den Lagern aller etablierten Parteien."

     

    Die üblichen Diffamierungen, wie "Protestwähler", "Berufsdemonstranten", "Wutbürger" und ähnliche Absonderungen unserer üblichen Holzmedien und Hinterzimmerpolitiker ändern nichts an der Tatsache, daß die Piratenpartei die einzige politische Gruppierung zu sein scheint, die nicht "alternativlos" für Lobbyismus, Korruption, Sozialstaatsabbau und Vertuschung steht. Und deshalb haben die sogenannten etablierten oder bürgerlichen Parteien guten Grund, sich Sorgen zu machen: immerhin haben die Piraten als einzige Partei das Potential, die politikerverdrossenen Nichtwähler zu reaktivieren, die (wie von den üblichen Verdächtigen gewünscht) jegliche Einmischung in die Politik aufgegeben haben.

    Es ist zu offensichtlich, daß es egal ist, in welchen Farben die neoliberalen Grundgesetzbrecher in unseren Parlamenten und der ReGIERung angestrichen sind - die Vertretung der Interessen der Bürger und Einwohner dieses Landes scheint denen völlig egal zu sein, solange sie nur ihren "Ehrensold" und sonstige, weniger öffentliche Vorteile abgreifen können. Ob Kriegseinsatz, Waffenhandel, Sozialstaatsabbau, Ausverkauf und Privatisierung aller öffentlichen Einrichtungen, Grundrechtsabbau, Bankstergeburtstage und milliardenschwere Rettungspakete - unsere herkömmlichen Parteien stehen erwiesenermaßen schon seit langem nur dafür...

    Die geforderte und gelebte Transparenz der Piraten, sowie die Möglichkeit für JEDEN, sich einzubringen und Einfluß zu nehmen steht im krassen Gegensatz zu allen anderen politischen Gruppierungen in diesem "demokratischen" Land - und ist ihnen natürlich ein Dorn im Auge. Deshalb ist es auch selbstverständlich, daß diese weiterhin mit größter Anstrengung versuchen werden, diese neue Idee durch oberflächliche Diffamierungen zu diskreditieren, durch neue Zensurgesetze zu behindern oder mit plumpen Schlagwörtern in Verruf zu bringen...

    Protestwähler? "Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen!"

     

    discordianische Grüße,

    weisshaupt

  • K
    Kaboom

    Die Piraten profierten aktuell IMHO vor allem von 3 Faktoren:

    Sie sind anders, sie sind hip, und sie sind harmlos.

     

    Die etablierten Parteien unterscheiden sich auf wichtigen Politikfeldern praktisch nicht mehr. Wie die letzten 10 Jahre gezeigt haben, ist es im Kern nicht relevant, wer regiert.

     

    Aktuell ist es hip, die Piraten zu wählen. So wie es 2009 hip war, FDP zu wählen, und so wie es 2011 hip war, Grüne zu wählen.

     

    Es gibt zwar eine hohe Parteiverdrossenheit, aber dennoch scheuen sich viele in diesem Land, aus Protest Parteien am Rand des politischen Spektrums zu wählen. Und da kommen die Piraten gerade recht. Die sind schon bei der Gründung von einer geradezu atemberaubenden Harmlosigkeit.

     

    Der Vergleich mit Techno ist allerdings für die Piraten beleidigend. Techno hatte sich schon längst verkauft, als es Mainstream wurde. Die Piraten (noch) nicht.

  • N
    Nico

    Wie oft denn noch? Es heißt nicht "kostenloser Nahverkehr" sondern "fahrscheinloser Nahverkehr"! Kostenlos geht nicht, irgendwer muss dafür bezahlen.

  • B
    Bobo

    Naja, ein Ort für politischen Grundkurs und Polit-Sandkasten ist weder der Land- noch der Bundestag.

    Dafür ist der Vertrauensvorschuss der Wähler (und die Diäten) zu hoch.

     

    Der Hintergrund der Grünen liegt in den APO / Friedensbewegungzeiten die enorm politisiert waren.

     

    Das ist ein anderer Hintergrund (wenn man die Piraten-Protestwähler nicht betrachtet) als der Hardcore der Piraten wohl hat.

     

    Leicht wird dann so eine Partei unterwandert (s. FDP-liberale Ansätze bei den Piraten wo dann acuh mit Verschuldungsorgien und Verfrühstückung der Zukunft der Jungwähler argumentiert wird.

     

    Eine neue FDP mit Piratenflagge braucht keiner.

    Eine neue Partei ist auch das Spiegelbild der aktuellen Gesellschaft - was spiegelt sich wohl bei den Piraten?

  • L
    Loretta

    Die Grünen reden zwar immerzu von Bürgerbeteiligung und von "Mitsprache" und Partizipation, aber sie halten ihre Versprechen in der Praxis meistens nicht ein.

     

    http://www.freitag.de/community/blogs/lila-lueftchen/berliner-gruene-im-online-krampf

     

    Aus Frust darüber wählen viele die Piratenpartei, obwohl sie z.B. mit deren Vorstellungen zum Urheberrecht überhaupt nicht einverstanden sind. Sie denken vielleicht sind die Neuen trotzdem besser - geben wir ihnen eine Chance.

     

    Viele parteipolitisch unabhängig engagierte Leute sind gleichzeitig Kreative, die zum Überleben auf eine angemessene Entlohnung ihrer geistigen Arbeit angewiesen sind. Sie versuchen Einfluss zu nehmen auf die Piraten, damit diese nicht weiter dafür kämpfen ihre Lebensgrundlage, also die ohnehin schon viel zu niedrige Bezahlung geistigen Eigentums weiter zu reduzieren bzw. sogar abzuschaffen.

  • D
    Detlev

    Man muss sich nur die Wählerwanderungen ansehen: Die Piraten kommen aus allen Parteien und sogar aus dem Nichtwählerbereich. Ein gewisser Frust über die Alt-Parteien eint sie, aber dabei bleibt es nicht. Sie sind in der digitalen Welt auch politisch angekommen. Noch Helmut Kohl hätte kaum eine Email abrufen können, aber die Welt hat sich entwickelt. Und dies kommt jetzt an dieser Stelle zum Vorschein.

     

    Als neue und relativ unerfahrene Partei wird viel Lehrgeld anfallen. Das erwarten aber die Piraten selber nicht anders, zumal deren Männer-Überschuss auch ein Phänomen ist.

     

    Da die SPD lieber große Koalitionen schließt, als über vergangene Sünden in der Sozial- und Arbeits-, Renten- und Wirtschaftspolitik nachsinnt, erschließt sich den Piraten ein freies Feld. Es wäre ein Wunder, wenn sie bald wieder verschwänden, zumal bis zur Saar-Wahl sie auch niemand wirklich ernst nehmen wollte. Das wird sich wohl ändern, aber weder Özdemir, noch Nahles oder andere prominente Rot-Grüne kommen bei den Wählern und Sympathisanten der Piraten wirklich an. Ihnen haftet eben grauer Miff und Staub an und sie sind teilweise wie Automaten oder Maschinen, einfach nicht fähig, zu reagieren. Das erinnert an die SPD unter Helmut Schmidt: Die SPD konnte damals einfach nicht auf gesellschaftliche Veränderungen eingehen. Die Folge wurden die Grünen und alternativen Listen - heute eine etablierte Anti-Partei. Aber im Zeitalter des Internets wird's nicht mehr so lange dauern - hier kommt eine Gruppe von Menschen, die per se global, digital und schnell denkt und handelt. Zum Glück sind sie links-liberal und sozial.

     

    Insofern: Sie werden bleiben und noch gedeihen.

  • E
    einer

    boah, das Thema ist längst mehr breit als tief und fängt vom ewigen draufrumtreten langsam an nach Schweißfüßen zu müffeln.

    Gehts vielleicht wenigstens eine Nummer geistreicher?

  • P
    Pilatus

    Bei diesen Pfeifen, die uns hier Demokratie vorgaukeln, können die Piraten nur bleiben. Sie werden nichts mehr zum positiven verändern-, aber sie sind dabei. Dabei sein ist alles! Hier regieren Industrie und Banken, und die Volksvertreter verdienen mit dabei, warum sollte da was verändert werden. Verändert das Volk selbst nichts(durch mutige Wahlen), wird sich überhaupt nichts mehr ändern.

  • M
    Mirko

    Wo in diesem Artikel nun Pro und Contra auseinanderliegen, ist mir auch nach erneutem lesen nicht so ganz klar, aber;

     

    "(...)im besten Sinne sozialliberale Forderungen mit neuen Politikformen(...)"

     

    Danke, danke, danke für diesen Satz: Die Piraten sind definitiv die neue FDP - und damit auch ein neuerliches gesellschaftliches rechtes Krebsgeschwür.

     

    Davon einmal abgesehen haben die Piraten ausser kostenlos alles herunterladen zu dürfen kein Programm, wenn man von der Forderung der Enteignung der Internetprovider durch die User einmal absieht. Der Rest vom Parteiprogramm ist als Pottpouri abgeschrieben.

  • HD
    Hajdy Do Bajdy

    Ist wohl nicht nur eine Frage einer Partei, sondern der politischen Teilnahme des Bürgers. Es ist klar, wenn sich die etablierten Parteien sich der Entwicklungen nicht "anpassen", dann gibt es Raum für neue Parteien.

     

    Eine neue Partei hat den Vorteil, dass dort Bürger teilnehmen können, die sich sonst nie politisch Betätigt haben und nie richtig vertreten wurden, welches eben auch ein Hauptgund einer Schieflage ist. Damit hebt sich das Potenzial des Staates.

     

    Jedoch ist auch klar, dass sich alle Parteien der allgemeinen Entwicklung der Globalisierung sehr gut angepasst haben. Und hier genauer, des gefährlichen Neoliberalismus, welches eher eine Vorstufe zum neuzeitigen Feudalismus ist.

     

    Hier kann sich natürlich schon die Frage stellen, ob die Piraten nicht so ein heimtückischer Flopp sind wie die Teaparty in den USA, mit solchen Muntermachern wie Alex Jones und der falschen Flagge Ron Paul, auf die auch die Linken in der BRD setzen, welches vom oligarischen Moskau und den russischen Medien "Russia Today" und "Euronews" unterstützt wird (also Neoliberalismus in Reinformat). Hier wird unter der Kappe gegen den „Polizeistaat“ gerade dafür der Grund vorbereitet, gegen was diese "neuen" Kräfte angeblich streiten. Der Bürger wird also eingespannt, um am Ende als Opferlamm dazustehen. Also so etwas die Erscheinung Jeanne d’Arc oder die religiöse Bewegung der französischen Jugend im Mittelalter, welche Jerusalem befreien wollte und die dann in Sklaverei für die Jugendlichen endete.

     

    Und eins ist klar, das Grundproblem ist die wachsende Zahl der Nichtwähler. Diese würden gerade nicht gut vertreten von den Piraten, wenn man dies am Beispiel für die Beendigung von Hartz IV sieht. Eine große Zahl von Nichtwählern würde dank den Piraten dann auf der Straße sitzen.