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Medizinische Versorgung"Wir doktern nicht herum"

In Lübeck gibt es künftig eine Anlaufstelle für Menschen ohne Papiere, die einen Arzt brauchen. Till Koch vom Medibüro Kiel weiß, was sie erwartet.

Mund auf, Zunge raus: Eine Aufforderung, die Menschen ohne Papiere selten hören. Bild: dpa
Ilka Kreutzträger
Interview von Ilka Kreutzträger

taz: Herr Koch, in Deutschland steht jedem Menschen eine medizinische Grundversorgung zu. So weit die Theorie, wie sieht es in der Praxis aus?

Till Koch: Schöne Theorie, aber in Wahrheit ist es so, dass Menschen ohne Papiere immer die Abschiebung fürchten müssen, sobald sie in den Kontakt mit einer Behörde kommen. Was dazu führt, dass sie medizinische Hilfe erst gar nicht in Anspruch nehmen, oft monatelang dringende Behandlungen aufschieben, darüber chronisch krank werden oder Frauen Risikoschwangerschaften ohne eine einzige Vorsorgeuntersuchung durchmachen. Darum haben wir das Medibüro in Kiel ins Leben gerufen, um Illegalisierten medizinisch behilflich zu sein.

In Lübeck öffnet nun auch ein Medibüro – was erwartet die Lübecker?

Medibüros sind Vermittlungsstellen, wir doktern also nicht selbst an den Patienten herum. Am wichtigsten ist daher, ein ausreichend großes Netzwerk an Ärzten, Hebammen und Laboren aufzubauen. Dafür haben wir fast ein Jahr gebraucht.

Wer kommt zu Ihnen?

Engagiert sich seit Ende 2009 ehrenamtlich im Medibüro Kiel: Till Koch. Bild: Privat
Till Koch

29, hat gerade sein Medizinstudium in Kiel abgeschlossen und engagiert sich seit Ende 2009 im dortigen Medibüro.

Mehr als die Hälfte sind tatsächlich Menschen aus den neuen EU-Ländern wie Rumänien, die zwar nicht illegal sind, aber keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben und weder hier noch im Heimatland krankenversichert sind. Gerade in Kiel gibt es sehr viele Roma und die Stadt schickt sie oft zu uns.

In Hamburg ruft auch mal das Gesundheitsamt an: Wir haben hier unterversorgte Menschen, können Sie da was machen?

Das ist schon absurd, denn eigentlich müsste sich die Stadt ja um eine Lösung bemühen, statt die ehrenamtliche Hilfe zu instrumentalisieren.

Wie finanzieren Sie sich?

Die Ärzte arbeiten kostenlos und der Rest wird über Spenden finanziert. Und wir bemühen uns, die Betroffenen, soweit es geht, auch mit heranzuziehen. Neulich brauchte beispielsweise jemand einen Zahnersatz und da hat der Patient 100 Euro und wir 200 Euro bezahlt.

Über Spenden heißt, dass die medizinische Versorgung davon abhängt, ob gerade Geld da ist?

Wenn kein Geld da ist, können wir nicht helfen. Das ist uns in Kiel bisher zum Glück nicht passiert, weil wir pro Woche auch nur etwa fünf Patienten haben. Da haben Städte wie Hamburg oder Hannover natürlich ganz anderen Zulauf. Es wird sich zeigen, wie es in Lübeck laufen wird.

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