Vorrundenspiel Polen-Russland: Nur ein kleiner Funken Hoffnung
Vor dem Spiel gegen Russland ist man im polnischen Team auf der Suche nach dem Heilsbringer. Der neue Held im Tor darf noch einmal antreten.
Die polnische Fußballseele leidet. Das 1:1 gegen Griechenland im Eröffnungsmatch der Euro 2012 ist nicht Fisch noch Fleisch. Einerseits geht es für jede Mannschaft beim Eröffnungsspiel eines großen Turniers primär darum, nicht zu verlieren. Aber wenn man gegen die alles andere als elanvoll aufspielenden Griechen mit 1:0 nach Toren und 11:10 nach Mannschaftsstärke führt, will man auch gewinnen.
Als Nationalcoach Smuda dazu sagte: „Wir sind mit dem Unentschieden zufrieden, obwohl wir Fehler gemacht haben“, ging es ihm als loyalen Angestellten wohl vor allem darum, nicht schlauer daherreden zu wollen als sein Chef Grzegorz Lato. Torschütze Lewandowski bekannte immerhin: „Nach der Führung haben wir uns zu dumm angestellt. Am Ende war das Unentschieden leistungsgerecht.“
„Auf was wartete Smuda?“, fragte die Tageszeitung Gazeta Wyborcza stellvertretend für viele Beobachter, die nicht verstehen, warum der Trainer dem müden Treiben seiner Mannschaft in der zweiten Halbzeit tatenlos zuschaute, nicht auswechselte oder schärfer: seinen Job nicht machte? In manchem Testspiel zeigte sich Smuda von der Idee fasziniert, die Selbstheilungskräfte in einer schlecht funktionierenden Mannschaft zu beobachten, anstatt dem Team von außen Impulse zu geben.
Smuda beteuert, dass er gerade im Sturm Brozek für Rybus bringen wollte, als er durch die rote Karte für Szczesny gezwungen war, einen Torwart einzuwechseln. Wie auch immer, es war sehr spät.
Überhaupt, diese polnischen Torhüter! Polen hat viele exzellente davon, die besten spielen bei Topklubs in ganz Europa. Der größte Freund der polnischen Torwartschule ist der Trainer von Arsenal London, Arsene Wenger. Nachdem sich Lukasz Fabianski einen jahrelangen Kampf mit dem deutschen Jens Lehmann um die Nummer eins bei diesem Klub geliefert hatte, setzte ihm Wenger nach Lehmanns Karriereende seinen polnischen Landsmann Wojciech Szczesny vor die Nase.
Sündenbock Sebastian Boenisch
Sowohl im Klub als auch in der Nationalelf war Szczesny in der abgelaufenen Saison die Nummer eins, Fabianski die Nummer zwei. Kaum jemand sprach mehr von der Nummer drei, dem 25-jährigen Przemyslaw Tyton, der bei Roda Kerkrade in der niederländischen Ehrendivision spielt und dort immerhin zum besten Torwart der Saison gewählt wurde.
Dieser Tyton machte nun eine Blitzkarriere der besonderen Art. Kurz vor Beginn der EM brach bei Fabianski eine Schulterverletzung wieder auf, was seine Teilnahme am Turnier verhinderte und Tyton zur Nummer zwei aufrücken ließ. Nach Szczesnys Missgeschick gegen Griechenland stand Tyton nicht nur plötzlich im Tor der Nationalelf, sondern vollbrachte mit dem gehaltenen Elfmeter sogar eine Heldentat.
Was dieser Geschichte noch zum ultimativen Fußballmärchen fehlt, wäre Tytons Verbleib im Tor, auch wenn Szczesnys Strafe von wahrscheinlich einem Spiel Sperre abgelaufen ist. Doch in Polen gibt es keine zwei Meinungen darüber, dass Smuda Szczesny wieder einsetzen wird, sobald er wieder darf.
Als Sündenböcke für die mäßige zweite Halbzeit gegen Griechenland haben die Kommentatoren und wohl auch der Trainer den Abwehrspieler Sebastian Boenisch sowie den als Mittelfeldregisseur ziemlich blass gebliebenen Ludovic Obraniak ausgemacht. Das ausgerechnet zwei der umstrittenen, frisch eingebürgerten „Ausländer“ die Schwachpunkte waren, dürfte Smudas Position nicht stärken.
Heilsbringer sehen anders aus
Für alle polnischen Spieler gilt: Heilsbringer sehen anders aus. Heilsbringer braucht die russische Mannschaft offensichtlich nicht, denn was an den Russen vor allem gelobt wird, ist ihre mannschaftliche Geschlossenheit, oder auf Fußballneudeutsch: Kompaktheit. Alle Defensivspieler in Trainer Dick Advocaats 4-3-3-System schalten sich in den Angriff ein, alle Offensivspieler verteidigen bei Bedarf. Hervorragende Einzelspieler wie Roman Shirokov, Andrey Arshavin oder Shootingstar Alan Dzagoev fügen sich zu einhundert Prozent in das taktische Konzept des Trainers ein.
Und das hohe Durchschnittsalter? „Gegen Tschechien sah man ihnen das nicht an“, sagt der ehemalige polnische Nationalspieler Wojciech Kowalewski der Zeitung Przeglad Sportowy. Einzig sehr schwüles Wetter könnte dieser Mannschaft der Männer von 30+ zu schaffen machen.
Ansonsten speist sich der kleine Funken Hoffnung, aus dem Russland-Spiel halbwegs heil herauszukommen, aus einer klassischen Frage der Fußballanalyse nach deutlichen Ergebnissen in Auftaktspielen. Denn für jedes Team gilt: Wie immer man im ersten Spiel auftrumpft, man muss das erst mal bestätigen.
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