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Flüchtlinge im KongoEnergiekekse am Kivu-See

Wenn die UN-Helfer nach Minova kommen, stoßen sie auf ausgehungerte Überlebende von Massakern aus Kongos neuestem Krieg. Ortstermin in einem Vertriebenenlager.

Ruhe nach der Flucht: Beatrice Malenda in Minova. Bild: Simone Schlindwein

MINOVA taz | Beatrice Malenda lässt ihr Bündel fallen und sinkt erschöpft ins Gras. Nothelfer eilen ihr entgegen, reißen Packungen mit Energiekeksen auf und drücken sie der Frau in die Hand.

Vorsichtig beißt sie in den Keks, der sofort zerkrümelt. Zaghaft fängt sie an zu kauen. Nach ein paar Bissen löst sich der abgekämpfte Gesichtsausdruck: „Ich hatte solchen Hunger“, seufzt sie und beäugt neugierig den Keks in ihrer Hand, der, so erklären die Helfer des UN-Welternährungsprogramms (WFP), in ihrem Magen wie ein Schwamm aufgehen und ein Sättigungsgefühl erzeugen soll: knapp 1.000 Kalorien, Vitamine, Mineralien und Eiweiß.

Beatrice Malenda ist etwa Mitte 40, sie trägt einen bunten Wickelrock, Hemd und ein blaues Kopftuch. Ihre Habseligkeiten schleppte sie in einem Bündel auf dem Rücken, das jetzt neben ihr im Gras liegt, Kochtöpfe, Wasserkanister, Kleidung – hastig zusammengepackt, als Malenda Hals über Kopf die Flucht ergriff.

Konfliktparteien

Armee gegen Rebellen: In der Vulkankette an der Grenze zwischen Kongo und Ruanda nordöstlich von Goma bekämpft Kongos Armee desertierte Militäreinheiten unter dem Kommando von Tutsi-Generälen, die eine Rebellenbewegung namens M23 gegründet haben. Zehntausende Menschen sind in dieser Region auf der Flucht.

Milizen gegen Milizen: Weil die Armee mit der M23 beschäftigt ist, können sich im Landesinneren der beiden Kivu-Provinzen westlich vom Kivu-See ethnische Milizen breitmachen. Sie bekämpfen sich durch wechselseitige Massaker an der jeweils feindlichen Zivilbevölkerung. Hunderttausende sind in dieser Region auf der Flucht. (dj)

„Ich war drei Tage unterwegs“, berichtet sie. Wie die meisten Vertriebenen in Minova stammt sie aus dem Dorf Ufamando, 70 Kilometer nordwestlich tief in der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu gelegen. Drei Tage ist sie über die Berge hinweg durch den Dschungel geirrt, auf der Flucht vor den Milizen, die ihre Hütten niedergebrannt, ihre Nachbarn massakriert haben.

Drei Tage hat sie nichts gegessen, ist nur marschiert. Komplett am Ende ihrer Kräfte ist sie gerade an diesem Morgen in Minova angekommen, eine Kleinstadt am Kivu-See, wo es fließendes Wasser gibt und Fische aus dem See und wo man sich Schutz von Soldaten erhofft.

Zelte aus Bananenblättern

In Minova herrscht Gedränge und Verzweiflung. Über 10.000 Vertriebene, so das WFP, muss die Kleinstadt schon jetzt mitversorgen. Und es kommen immer mehr aus den Bergen, in denen gemordet wird. Sie hausen in der örtlichen Schule, haben sich aus Bananenblättern Zelte gebaut, sind in Gastfamilien untergekommen, die selber zu wenig zum Überleben haben.

Auf einem Fußballplatz im Schatten von hohen Eukalyptusbäumen stehen Frauen und Männer Schlange: WFP-Mitarbeiter rufen die Namen der Familien auf, die in den vergangenen Tagen neu registriert wurden. Mit einem Fingerabdruck muss das Familienoberhaupt den Erhalt der Erste-Hilfe-Ration quittieren.

Ein Kilo Energiekekse verteilt das UN-Programm pro Kopf, um den ersten Hunger zu stillen. Erst in rund einer Woche sollen dann Lastwagen mit richtiger Nahrung eintreffen: Reis, Bohnen, Maismehl.

Die Stimmung ist angespannt. Aus Hunger und Erschöpfung drängeln sich viele in den Warteschlangen vor. Es wird geschubst, gestritten, diskutiert. Die WFP-Mitarbeiter rufen durch ein Megaphon zur Ordnung auf. Vergeblich. Plötzlich gerät die Menge in Bewegung. Ein Junge läuft davon, ein paar Packungen Kekse unter dem Arm geklemmt. Männer folgen ihm, holen ihn ein und knüppeln ihn nieder. Er hatte versucht, einer Frau die Rationen zu stehlen.

Alle haben viel durchgemacht

Mashimango Meshi versucht, die Menge zu beruhigen. Der Mann mit einem Holzkreuz um den Hals streckt wie ein Prophet die Arme aus. „Ihr werdet alle etwas bekommen, keine Panik bitte!“, ruft er über die Köpfe der Menschen hinweg. Es kehrt wieder Ruhe ein. Meshi hat Autorität. Er ist der Sprecher der Vertriebenen. In seinem Heimatdorf in der Gemeinde Ufamando ist er der Pastor. Der Mann Anfang fünfzig seufzt: „Wir haben alle viel durchgemacht. Die Leute sind verzweifelt.“

In Ufamando, hoch oben in den Bergen gelegen, bekriegen sich seit Oktober 2011 vier bewaffnete Gruppen, erklärt Meshi. Knapp hundert Kämpfer der ruandischen Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) sind dort rund um ein Lager ruandischer Hutu-Flüchtlinge stationiert, um diese zu beschützen. Die Frauen und Kinder der meisten FDLR-Kämpfer leben in diesem Lager.

Die kongolesische Miliz „Mayi-Mayi-Kirikichu“, die sich aus der lokalen kongolesischen Ethnie der Tembo rekrutiert, hat sich als Selbstverteidigungsmiliz gegen die FDLR gerüstet, weil die FDLR kongolesische Zivilisten angreift, sobald sie selbst unter Druck gerät. Dazu ziehen rund hundert Kämpfer der Miliz „Nyatura“ („harter Druck“) aus kongolesischen Hutu mit Kalaschnikow-Gewehren durch die Dörfer.

Sie haben sich mit der FDLR verbündet, damit die Hutu gemeinsam gegen eine vierte Miliz kämpfen, die stärkste der Region: Raia Mutomboki („verärgerte Menschen“). Die zieht derzeit durch immer größere Waldgebiete der Kivu-Provinzen und richtet brutale Massaker vor allem an ruandischsprachigen Bevölkerungsgruppen an.

Sieben Dörfer eingeäschert

Auch für Pastor Meshi ist diese Bewegung ein neues Phänomen, erzählt er. „Kurz vor den Wahlen 2011 tauchten in unserer Gegend bewaffnete Männer der Rega-Ethnie auf“, berichtet er. Sie hätten allen Tembo-Männern befohlen, sich mit Macheten zu bewaffnen. „Sie hetzen gegen die Ruander, greifen sie an“, sagt er. Nun würden die Raia Mutomboki mit den Kirikichu gemeinsam gegen die beiden Hutu-Milizen kämpfen. Meshi zählt sieben Dörfer seiner Gemeinde auf, die erst vor ein paar Tagen niedergebrannt wurden.

Und was macht Kongos Regierung? Die hat ihre Armee abgezogen, um ganz woanders, an der Grenze zu Ruanda, eine neue Rebellenarmee von Tutsi-Generälen zu bekämpfen, die sogenannte M23. Pastor Meshi schüttelt den Kopf: „Seit die Soldaten aus unserer Gemeinde abgezogen wurden, herrscht dort die totale Anarchie.“

Der Pastor wirkt nervös. Er sucht im Gewühl nach seinen vier Kindern. Als er den jüngsten Sohn, einen mageren Knirps mit zerrissenem T-Shirt und Rotznase, findet, schimpft er laut mit ihm. Er ist überfordert. „Meine Frau hat eine Kugel in den Unterleib getroffen“, berichtet er. Auf dem Rücken habe er sie drei Tage lang durch das Unterholz geschleift, die Kinder im Schlepptau. In der Krankenstation von Minova werde sie nun versorgt.

Viermal, erinnert sich der Pastor, seien er und seine Familie in den vergangenen vier Jahren aus Ufamando vertrieben worden. Er habe absolut keine Hoffnung mehr, auch nicht in Kongos Regierung unter Präsident Joseph Kabila. „Kabila hatte uns Frieden im Osten versprochen, doch das Gegenteil ist jetzt eingetreten, die Leute sind verärgert“, schimpft Meshi und verweist auf Kongos Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2011: „Wir sind enttäuscht, weil der Wahlbetrug gezeigt hat, dass sich nichts verändert, auch wenn man es sich wünscht.“

Von der Hand in den Mund

Erneut bricht in der Menschenmenge Tumult aus. Ein weiterer Dieb hat Keksrationen geklaut – und er wird von einem wütenden Mob verfolgt und schließlich eingekreist. Derweil klopft ein Mann Meshi auf die Schulter und erkundigt sich nach der Lage. Es ist Edmond Mundu, Leiter der Zivilgesellschaft in Minova. Er versucht, den Pastor zu beschwichtigen.

„Ihr müsst verstehen“, sagt er. „Die Leute in Minova leben selbst nur von der Hand in den Mund und jetzt erhalten nur die Vertriebenen Rationen.“ Die Einwohner von Minova, die die Vertriebenen in ihren Häusern aufnehmen, gingen jetzt leer aus. Gleichzeitig sei alles teurer geworden – Bratöl, Salz, Zucker, Medikamente und Benzin. Der Krieg trifft alle, ob sie fliehen oder nicht. Die Regierungssoldaten in Minova treiben jetzt pro Haushalt einen Dollar in der Woche Sold ein, als Schutzgeld.

WFP-Mitarbeiterin Romatoulaye Seck, eine robuste Frau aus dem Senegal, begutachtet sorgfältig die auf der Verpackung aufgelisteten Zutaten der Energiekekse: „Diese Rationen sind extra für unterernährte Menschen hergestellt“, erklärt sie. „Sie werden ausreichen, bis unser Lebensmitteltransport hier ankommt.“ Und dann? Bis der Lastwagen eintrifft, das weiß Seck schon, wird sich die Zahl der Vertriebenen in Minova wieder deutlich erhöht haben. „Wir kommen einfach nicht hinterher.“

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